1914 oder 1939?

 

 

 

Anmerkungen zu historischen Analogien für den aktuellen NATO-Russland-Konflikt

 

 

 

Von Michael Pröbsting, Internationaler Sekretär der Revolutionären Kommunistischen Internationalen Tendenz (RCIT), 15. Februar 2022, www.thecommunists.net

 

 

 

 

 

 

 

In dieser turbulenten und schwierigen Zeit atmen wir die explosive Luft der sich entwickelnden Weltgeschichte. Nur Menschen ohne Sinn für Weltpolitik oder Geschichte (oder beides) können den schicksalhaften Charakter der gegenwärtigen Zeit ignorieren. Es besteht kein Zweifel, dass die gegenwärtige Zeit den Jahren vor 1914 ähnelt.

 

 

 

Mehrere imperialistische Großmächte - die USA, China, die EU, Russland und Japan - befinden sich in einer erbitterten Rivalität, wobei jeder versucht, seinen Einflussbereich auf Kosten der anderen zu erweitern. Die Konflikte zwischen den USA und China in der asiatisch-pazifischen Region [1]und zwischen der NATO und Russland in Osteuropa [2] sind derzeit die wichtigsten Krisenherde der zwischenimperialistischen Rivalität.

 

 

 

Mit unserer Analogie zu 1914 wollen wir nicht andeuten, dass der Dritte Weltkrieg im nächsten Monat beginnen wird. Das erscheint uns eher unwahrscheinlich. Aber man muss schon blind sein, um die grundlegenden Entwicklungen nicht zu erkennen, bei denen die Interessen der Großmächte mit zunehmender Geschwindigkeit und Intensität aufeinanderprallen. Und jeder mit einem Funken Geschichtsbewusstsein spürt, dass das, was wir in diesen Jahren erleben, Ereignissen wie den Konfrontationen zwischen Frankreich und Deutschland in den beiden "Marokkokrisen" (1905-06 bzw. 1911) oder den Balkankriegen 1912-13 ähnelt. Es ist klar: Wenn es der Arbeiterklasse nicht gelingt, die herrschende Klasse der imperialistischen Großmächte zu stürzen, driftet die Menschheit in einen verheerenden Weltkrieg. Ein solches Ereignis wird Massen von Menschen töten und gleichzeitig die globale kapitalistische Ordnung an den Rand des Zusammenbruchs bringen.

 

 

 

Wir wollen an dieser Stelle nicht über den möglichen Zeitrahmen bis zu einem solchen Ereignis spekulieren - was ohnehin unmöglich ist, da dies von zahlreichen Faktoren abhängt, vor allem vom Verlauf des Befreiungskampfes der Arbeiter und unterdrückten Völker. Ebenso wenig wollen wir hier die Stärken und Schwächen der einzelnen imperialistischen Mächte diskutieren.

 

 

 

Der Zweck dieses kurzen Artikels ist es vielmehr, mit Hilfe historischer Analogien den wichtigen Unterschied zwischen dem Verständnis der Marxisten und der Opportunisten über die Natur der Rivalität der Großmächte in der gegenwärtigen Periode zu diskutieren.

 

 

 

Die Revolutionäre Kommunistische Internationale Tendenz (RCIT) hat in einer Reihe von Werken ihre Analyse der Großmachtrivalität dargelegt. [3] Wir erkennen den Zerfall des westlichen Imperialismus - in erster Linie des langjährigen Hegemons USA - sowie das Aufkommen von China [4] und Russland als neue imperialistische Mächte. [5] Wir betrachten daher den Konflikt zwischen diesen Mächten - bzw. zwischen ihren Stellvertretern - als durch und durch reaktionär. Folglich dürfen Sozialisten in solchen Konflikten zwischen Großmächten oder deren Stellvertretern keine Seite unterstützen. In allen solchen Konflikten tritt das RCIT für ein Programm des revolutionären Defätismus ein, d.h. auf die Niederlage der jeweiligen Regierungen und die Umwandlung dieses Konflikts in eine revolutionäre Krise im eigenen Land hinzuarbeiten. [6]

 

 

 

Wir denken daher - auf der Suche nach einer historischen Analogie - dass die gegenwärtige Weltlage bis zu einem gewissen Grad den Jahren vor 1914, d.h. vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs, ähnelt.

 

 

 

 

 

 

 

Haben China und Russland heute einen ähnlichen Charakter wie im Jahr 1939?

 

 

 

 

 

 

 

Im Gegensatz dazu lehnen die meisten Stalinisten, Bolivarianer, Linksreformisten und auch eine Reihe von Pseudotrotzkisten ein solches Verständnis der Weltlage ab. Sie betrachten China und Russland nicht als imperialistische Mächte. Viele glauben, dass China eine Art "sozialistischer" oder (deformierter) "Arbeiterstaat" wäre. Andere behaupten, China und Russland seien kapitalistische, aber nicht imperialistische Mächte. Aber auf die eine oder andere Weise stimmen sie alle darin überein, diese beiden Großmächte als etwas qualitativ anderes, schwächeres, weniger reaktionäres als ihre westlichen Rivalen zu betrachten. [7]

 

 

 

Infolgedessen schließen sich diese opportunistischen Parteien im Konflikt zwischen den Großmächten - offen oder verdeckt - dem Lager Chinas und Russlands an. Ihre historische Analogie ist daher - bewusst oder unbewusst - nicht 1914, sondern 1939.

 

 

 

Es ist allgemein bekannt, dass sich die Konstellation des Zweiten Weltkriegs von der des vorhergehenden insofern unterschied, als 1939 die Sowjetunion existierte, d. h. ein großer Arbeiterstaat (der allerdings bereits von der Diktatur der stalinistischen Bürokratie beherrscht wurde). Ebenso gab es einen großen Krieg in Ostasien, wo das chinesische Volk gegen die japanischen Invasoren kämpfte.

 

 

 

Leo Trotzki und die Vierte Internationale zogen daraus den Schluss, dass die Sozialisten eine Doppeltaktik anwenden mussten. Im Konflikt zwischen den imperialistischen Mächten (Großbritannien, Frankreich und später die USA gegen Deutschland, Italien und später Japan) konnten die Sozialisten keine der beiden Seiten unterstützen und mussten eine defätistische Position gegen alle Großmächte einnehmen. Im Krieg zwischen Deutschland und der UdSSR bzw. zwischen Japan und China mussten die Sozialisten jedoch die UdSSR bzw. China verteidigen, ohne deren nichtrevolutionäre Führung politisch zu unterstützen. [8]

 

 

 

Es ist offensichtlich, dass die aktuelle Weltlage viel mehr Ähnlichkeiten mit der Analogie von 1914 aufweist als mit 1939. Damals war Russland bzw. die UdSSR ein degenerierter Arbeiterstaat. China war eine kapitalistische Halbkolonie. Heute sind beide imperialistische Mächte.

 

 

 

Die opportunistischen Freunde Moskaus und Pekings ignorieren dies jedoch. Vielmehr beschönigen sie den Klassencharakter Chinas und Russlands, um den Beitritt zum imperialistischen Lager der östlichen Großmächte zu legitimieren.

 

 

 

Es gibt auch Sozialisten, die instinktiv dagegen sind, eines der beiden Lager zu unterstützen, denen aber eine klare theoretische Grundlage fehlt, da sie sich weigern, den imperialistischen Charakter Chinas und Russlands anzuerkennen. Diese Genossen sollten unserer Meinung nach diese Frage überdenken, denn ein Versagen in der Theorie kann in der Zukunft gefährliche taktische Folgen haben. Für Marxisten ist eine konsistente Theorie die Voraussetzung für ein konsistentes Programm. Das Fehlen der ersten kann zu Opportunismus und Sozialimperialismus auf dem Gebiet der Strategie und Taktik führen.

 

 

 

Es ist dringend notwendig, dass die Sozialisten ihre Theorie und ihr Programm klären. Diejenigen, die sich im Kampf gegen alle imperialistischen Mächte einig sind, müssen beginnen, zusammenzuarbeiten und über Möglichkeiten der Einheit zu diskutieren. Das RCIT ruft Sozialisten auf, eine gemeinsame internationale Organisation aufzubauen, die gegen alle Großmächte - sowohl in Ost als auch in West - kämpft und alle Befreiungskämpfe der Arbeiter und unterdrückten Völker gegen jede Großmacht oder ihren reaktionären Lakaien unterstützt.

 

 

 


 

 

 

[1] Siehe dazu z.B. RCIT: The Coming Inter-Imperialist War on Taiwan. Revolutionärer Defeatismus gegen beide Großmächte - sowohl die USA als auch China! 10. Oktober 2021, https://www.thecommunists.net/worldwide/global/the-coming-inter-imperialist-war-on-taiwan/.

 

[2] Wir verweisen auf eine spezielle Seite auf unserer Website, auf der alle RCIT-Dokumente zum aktuellen NATO-Russland-Konflikt zusammengestellt sind: https://www.thecommunists.net/worldwide/global/compilation-of-documents-on-nato-russia-conflict/; unsere beiden Kernaussagen sind: Weder NATO noch Russland! Nieder mit allen imperialistischen Kriegstreibern! Keine Unterstützung für eines der beiden imperialistischen Lager oder seine Stellvertreter in der Ukraine und im Donbass! Vereint die Arbeiter und Unterdrückten für einen unabhängigen Befreiungskampf! 25. Januar 2022, https://www.thecommunists.net/worldwide/global/neither-nato-nor-russia-down-with-all-imperialist-warmongers/; Der aktuelle NATO-Russland-Konflikt und die antiimperialistischen Aufgaben der Revolutionäre. Nieder mit allen Großmächten und ihren Stellvertretern! Für eine unabhängige und sozialistische Ukraine! 29. Januar 2022, https://www.thecommunists.net/worldwide/global/the-current-nato-russia-conflict-and-the-anti-imperialist-tasks-of-revolutionaries/. Die meisten unserer Dokumente sind in mehrere Sprachen übersetzt worden.

 

[3] Siehe dazu z.B. unser Buch von Michael Pröbsting: Anti-Imperialismus im Zeitalter der Großmachtrivalität. Die Faktoren hinter der sich beschleunigenden Rivalität zwischen den USA, China, Russland, der EU und Japan. A Critique of the Left's Analysis and an Outline of the Marxist Perspective, RCIT Books, Wien 2019, https://www.thecommunists.net/theory/anti-imperialism-in-the-age-of-great-power-rivalry/; siehe auch das folgende Pamphlet desselben Autors: "A Really Good Quarrel". US-China Alaska Meeting: The Inter-Imperialist Cold War Continues, 23. März 2021, https://www.thecommunists.net/worldwide/global/us-china-alaska-meeting-shows-continuation-of-inter-imperialist-cold-war/.

 

[4] Das RCIT hat zahlreiche Dokumente über den Kapitalismus in China und seine Umwandlung in eine Großmacht veröffentlicht. Siehe hierzu z.B. die folgenden Werke von Michael Pröbsting: China: Eine imperialistische Macht ... oder noch nicht? Eine theoretische Frage mit ganz praktischen Konsequenzen! Fortsetzung der Debatte mit Esteban Mercatante und der PTS/FT über Chinas Klassencharakter und die Konsequenzen für die revolutionäre Strategie, 22. Januar 2022, https://www.thecommunists.net/theory/china-imperialist-power-or-not-yet/; Chinese Imperialism and the World Economy, ein Aufsatz, der in der zweiten Ausgabe von The Palgrave Encyclopedia of Imperialism and Anti-Imperialism (herausgegeben von Immanuel Ness und Zak Cope) veröffentlicht wurde, Palgrave Macmillan, Cham, 2020, https://link.springer.com/referenceworkentry/10.1007%2F978-3-319-91206-6_179-1; China's transformation into an imperialist power. Eine Studie über die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Aspekte Chinas als Großmacht (2012), in: Revolutionary Communism No. 4, http://www.thecommunists.net/publications/revcom-number-4; China's Emergence as an Imperialist Power (Artikel in der US-Zeitschrift "New Politics"), in: "New Politics", Sommer 2014 (Vol:XV-1, Whole #: 57); How is it possible that some Marxists still Doubt that China has Become Capitalist? (A Critique of the PTS/FT), An analysis of the capitalist character of China's State-Owned Enterprises and its political consequences, 18 September 2020, https://www.thecommunists.net/theory/pts-ft-and-chinese-imperialism-2/; Unable to See the Wood for the Trees (PTS/FT and China). Eclectic Empiricism and the failure of the PTS/FT to recognize the imperialist character of China, 13. August 2020, https://www.thecommunists.net/theory/pts-ft-and-chinese-imperialism/.

 

[5] Das RCIT hat zahlreiche Dokumente über den Kapitalismus in Russland und dessen Aufstieg zu einer imperialistischen Macht veröffentlicht. Siehe dazu z.B. mehrere Broschüren von Michael Pröbsting: The Peculiar Features of Russian Imperialism. Eine Studie über Russlands Monopole, Kapitalexport und Superausbeutung im Lichte der marxistischen Theorie, 10. August 2021, https://www.thecommunists.net/theory/the-peculiar-features-of-russian-imperialism/; vom gleichen Autor: Lenins Theorie des Imperialismus und der Aufstieg Russlands zur Großmacht. Über das Verständnis und Missverständnis der heutigen zwischenimperialistischen Rivalität im Lichte der Leninschen Imperialismustheorie. Eine weitere Antwort an unsere Kritiker, die Russlands imperialistischen Charakter leugnen, August 2014, http://www.thecommunists.net/theory/imperialism-theory-and-russia/; Russland als imperialistische Großmacht. Die Entstehung des russischen Monopolkapitals und seines Imperiums - Eine Antwort an unsere Kritiker, 18. März 2014, in: Revolutionärer Kommunismus Nr. 21, http://www.thecommunists.net/theory/imperialist-russia/; Russischer Imperialismus und seine Monopole, in: Neue Politik Bd. XVIII Nr. 4, Gesamtnummer 72, Winter 2022, https://newpol.org/issue_post/russian-imperialism-and-its-monopolies/. Siehe verschiedene andere RCIT-Dokumente zu diesem Thema auf einer speziellen Unterseite auf der Website des RCIT: https://www.thecommunists.net/theory/china-russia-as-imperialist-powers/.

 

[6] Siehe z.B. RCIT: Thesen zur revolutionären Niederlage in imperialistischen Staaten, 8. September 2018, https://www.thecommunists.net/theory/theses-on-revolutionary-defeatism-in-imperialist-states/

 

[7] Siehe hierzu z.B. zwei Pamphlete von Michael Pröbsting: Diener zweier Herren. Stalinismus und der neue Kalte Krieg zwischen imperialistischen Großmächten in Ost und West, 10. Juli 2021, https://www.thecommunists.net/theory/servants-of-two-masters-stalinism-and-new-cold-war/; Putins Pudel (Entschuldigung an alle Hunde). Die pro-russischen stalinistischen Parteien und ihre Argumente im aktuellen NATO-Russland-Konflikt, 9. Februar 2022, https://www.thecommunists.net/theory/nato-russia-conflict-stalinism-as-putin-s-poodles/

 

[8] Siehe z.B. Vierte Internationale: Der imperialistische Krieg und die proletarische Weltrevolution; Manifest der Dringlichkeitskonferenz der Vierten Internationale im Mai 1940; in: Documents of the Fourth International. The Formative Years (1933-40), New York 1973, S. 311-350, http://www.marxists.org/history/etol/document/fi/1938-1949/emergconf/fi-emerg02.htm; siehe auch Leo Trotzki: Krieg und die Vierte Internationale (1934), in: Trotzki-Schriften 1933-34, S. 299-330