Ein Vorschlag an alle Mitglieder und ehemaligen Mitglieder des CWI, über das weitere Vorgehen in diesen turbulenten Zeiten zu diskutieren.
Offener Brief der Revolutionär-Kommunistischen Internationalen Tendenz (RCIT), 29. Juni 2019, www.thecommunists.net
Liebe Genossinnen und Genossen,
Wie ihr natürlich wisst, befindet sich das CWI in eine tiefen Krisen, die höchstwahrscheinlich in einer Spaltung enden wird. Verständlicherweise sind viele Genossinnen und Genossen verwirrt, wie so ein plötzlicher Zusammenbruch passieren konnte. Viele werden darüber sehr enttäuscht sein.
Allerdings sollte man auch nicht vergessen, dass in der Geschichte wichtige revolutionäre Strömungen aus Spaltungen hervorgegangen sind. Dazu gehören die frühen Christen; Hus, Luther und Müntzer im Mittelalter; und die Bolschewiki, die Kommunistische Internationale und die trotzkistische Bewegung in der Neuzeit. Aber die Voraussetzung für ein nach vorne weisendes Ergebnis der Spaltung ist die Ausarbeitung einer richtigen Analyse der Ursachen der Krise und das Ziehen der notwendigen Schlussfolgerungen für das weitere Vorgehen.
Für einige mag es den Anschein haben, dass die tiefe Krise des CWI durch die bürokratischen Methoden des von Taaffe geführten Internationalen Sekretariats oder durch die opportunistische Anpassung der "Koordination" (auch "Nicht-Fraktions-Fraktion" genannt) an die sogenannte "Identitätspolitik" entstanden ist. Tatsächlich sind weder bürokratische Führungsmethoden noch Opportunismus gegenüber kleinbürgerlichen Strömungen neue Phänomene im CWI. Die eigentliche Ursache der Krise liegt darin, dass diese Methoden nicht mehr mit der veränderten Realität in Einklang gebracht werden können - eine Weltlage, die durch stark zunehmende Widersprüche zwischen Klassen und Staaten gekennzeichnet ist.
In den folgenden Abschnitten werden wir zusammenfassen, was wir in der RCIT als die Hauptfragen betrachten, die angegangen werden müssen, um einen revolutionären Ausweg aus der Krise zu finden. (1)
1. Der authentische Marxismus lehnt die kleinbürgerliche Illusion der friedlichen Überwindung des Kapitalismus ab. Einer der Grundpfeiler des CWI (wie auch von Alan Woods' IMT) war immer die These, dass der Kapitalismus mit friedlichen Mitteln oder sogar über den parlamentarischen Weg gestürzt werden kann. Wie die RCIT mehrfach darlegte, hat sich eine solche Position in der Geschichte als falsch erwiesen und steht in völligem Widerspruch zu den Ansichten von Lenin und Trotzki. Betrachten wir die Oktoberrevolution. Bei den ersten Aufständen gab es nur sehr wenige Todesopfer. Die Antwort des Weltimperialismus war, die russische Revolution in drei blutigen Jahre des Bürgerkrieg zu ziehen. Die Genossen des CWI müssen verstehen, dass der Kapitalismus nur durch einen bewaffneten Aufstand der Arbeiterklasse und der Volksmassen gestürzt (und die Revolution verteidigt) werden kann. In diesem Zusammenhang müssen die Marxistinnen und Marxisten die klassische CWI-Position stellen, dass die Polizei Teil der Arbeiterklasse wäre und dass ihre Gewerkschaften Teil der Arbeiterbewegung sein sollten. (2) Die Polizei wird nicht von der Bourgeoisie ausgebeutet, sondern ist die Hüterin des Systems der kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrückung.
2. Der authentische Marxismus ist antiimperialistisch oder er ist nicht marxistisch. In ihrer ganzen Geschichte hat sich die CWI-Führung in Kriegen mit imperialistischen Mächten (z.B. Malvinas-Krieg Großbritanniens gegen Argentinien 1982, US-Kriege gegen den Irak 1991 und 2003, NATO-Krieg gegen Afghanistan 2001) nicht auf die Seite der halbkolonialen Ländern gestellt. Infolgedessen nahm sie eine offen oder verschleierte pazifistische und neutrale Position ein. Marxisten müssen sich auf die Lehren von Lenin und Trotzki stützen, die sich für eine "aktive, unmissverständliche Unterstützung der unterdrückten Kolonialvölker in ihren Kämpfen und Kriegen gegen den Imperialismus"ausgesprochen haben. „Eine "neutrale" Position ist gleichbedeutend mit der Unterstützung des Imperialismus.“ (3)
3. Marxisten unterstützen konsequent den Kampf der unterdrückten Nationen. Während das CWI heute den nationalen Kampf des katalanischen Volkes unterstützt (eine Position, die wahrscheinlich auf Druck ihrer ehemaligen Genossen in Spanien akzeptiert wurde), tat es dies in entscheidenden Befreiungskämpfen in anderen Ländern nicht. In Irland weigerte es sich konsequent, sich auf die Seite der Nationalisten zu stellen, die gegen die britische Besatzung im Norden kämpften. Die Führung der irischen Sektion ging sogar so weit, die Umsetzung der Einheitsfronttaktik gegenüber Sinn Fein in Massenbewegungen abzulehnen. In Israel fordert das CWI einen "sozialistischen" israelisch-jüdischen Staat anstelle eines einzigen Staates mit dem Recht aller palästinensischen Flüchtlinge, in ihre Heimat zurückzukehren. Dies ist in Wirklichkeit eine Unterstützung für den Fortbestand eines kolonialen Siedlerstaates auf historischem palästinensischem Gebiet. (4) Ebenso betrachten wir die Ablehnung der CWI von offenen Grenzen für Migranten und Flüchtlinge und ihre Unterstützung der kapitalistischen Einwanderungskontrolle als grundlegenden Verstoß gegen das marxistische Prinzip des Internationalismus. (5)
4. Revolutionäre Opposition statt Anpassung an die Arbeiterbürokratie und die Arbeiteraristokratie. Die oben genannten anti-marxistischen Positionen der CWI-Führung sind kein Zufall, sondern das Ergebnis ihrer langfristigen opportunistischen Anpassung an Teile der Arbeitsbürokratie und an die Vorurteile der privilegiertesten Schichten der Arbeiterklasse. Jahrzehntelang arbeitete sie in der britischen Labour Party und anderen sozialdemokratischen Parteien. Die CWI-Führung lehnte ein Verständnis ab, dass diese Parteien zu "bürgerlichen Arbeiterparteien" (Lenin und Trotzki) geworden sind, und behauptete stattdessen, dass diese Parteien ohne Brüche in "sozialistische Parteien" umgewandelt werden könnten. Dann, Anfang der 90er Jahre, machte die Mehrheit eine 180-Grad-Kehrtwendung (die Minderheit, aus der dann Alan Woods' IMT wurde, behielt die alte Position bei.) Die Führung behauptete nun, dass diese Parteien überhaupt keine "Arbeiterparteien" mehr seien. Infolgedessen war das CWI in Großbritannien völlig überrascht und verwirrt von der linksreformistischen Wende in der Labour Party unter Corbyn. Marxistinnen und Marxisten müssen den Charakter reformistischer Parteien als "bürgerliche Arbeiterparteien" anerkennen. Gleichzeitig sollten sie jedoch die Einheitsfronttaktik auf solche Kräfte anwenden, einschließlich, wenn es angebracht ist, einer kritischen Wahlunterstützung. Unter bestimmten Bedingungen ist eine kurzfristige Entrismus-Taktik legitim. Das konsequente strategische Ziel muss jedoch darin bestehen, die Arbeiter von der Bürokratie (sowohl linker als auch rechter) zu befreien. (6)
Während der gesamten Zeit setzte die CWI-Führung die gleiche opportunistische Herangehensweise innerhalb der Gewerkschaftsbürokratie fort. Anstatt eine revolutionäre Basis-Bewegung aufzubauen und sich in allen Bereichen der Bürokratie zu widersetzen, haben sie sich der linksreformistischen Bürokratie angeschlossen. Infolgedessen entwickelten die CWI-Kader in einer Reihe von Fällen enge Verbindungen zu dieser Bürokratie und traten sogar als gut bezahlte Untergebene in ihre Reihen ein (siehe z.B. die 15-jährige enge Allianz mit der Serwotka-Führung der PCS-Gewerkschaft in Großbritannien, die kürzlich mit dem Zusammenbruch und den Austritten vieler CWI-Kader endete).
Der Opportunismus der CWI-Führung ist nicht auf die Gewerkschaften beschränkt. Sie wendet die gleichen Methoden auf andere, der Arbeiterklasse fremde Kräfte an. Nehmen wir zum Beispiel die Allianz der US-Sektion des CWI mit Senator Bernie Sanders. Im Jahr 2016 und jetzt wieder unterstützt sie die Kampagne von Sanders, der Präsidentschaftskandidat der Demokraten zu werden, einer der beiden Parteien der US-amerikanischen Monopolbourgeoisie. (7) Ein weiterer Ausdruck dieser extremen, opportunistischen Anpassung an bürgerliche Kräfte ist die Abstimmung des CWI-US-Führers Kshama Sawant am 13.08.2018 im Stadtrat von Seattle zugunsten des Chefs der Polizeidirektion. (8)
5. Marxisten müssen den politischen Charakter der aktuellen historischen Periode verstehen. Diese Periode ist gekennzeichnet durch eine massive Verschärfung der Widersprüche zwischen Klassen und zwischen Staaten. Infolgedessen ist diese Periode heute von bedeutenden Wellen des Klassenkampfes geprägt. Die CWI-Führung hat es jedoch versäumt, die Wesen dieser politischen Umwälzungen zu erfassen. Sie behauptet, das Klassenbewusstsein sei immer noch "von der Niederlage des Stalinismus" geprägt, anstatt die zunehmende Radikalisierung der Arbeiter und Unterdrückten auf der ganzen Welt anzuerkennen. Als Folge eines solchen "Pessimismus" versäumte sie es, den Charakter der Arabischen Revolution (seit 2011) zu verstehen. Konsequenterweise verzichtete sie auf die Unterstützung für die anhaltenden Volkskämpfe gegen Diktaturen und imperialistische Aggressionen in Syrien, Jemen usw., weil die Massen ihre Kämpfe unter einer nicht-sozialistischen Führung fortgesetzt haben. (9) Im Gegensatz dazu hatte die CWI-Führung keine solche Zurückhaltung, wenn es um die wirklich reaktionären, imperialistischen Kräfte ging, die die Brexit-Kampagne anführten. (10) Ebenso hat es die CWI-Führung versäumt, die Herausbildung Chinas und Russlands als imperialistische Großmächte zu begreifen und kann daher den Charakter der aktuellen Ereignisse (wie den Welthandelskrieg) nicht als inner-imperialistische Konflikte sehen. Daher fehlt ihnen eine theoretische Perspektive für die Anwendung des leninistischen Programms des revolutionären Defätismus, d.h. der unnachgiebigen Opposition gegen alle Großmächte und das Eintreten für deren Niederlage. (11)
Genossinnen und Genossen, das sind einige der wichtigsten Themen, bei denen die Führung des CWI die internationale Arbeiterklasse völlig im Stich gelassen hat. Deshalb erlebt das CWI jetzt ernsthafte Spaltungen, ähnlich wie eine Vielzahl andere Organisationen in der jüngeren Vergangenheit, denen es auch an einer konsequenten marxistischen Methode mangelt (z.B. SWP/IST, PSTU/LIT, IMT, die Lambertisten oder die amerikanische ISO).
In den Reihen des CWI gibt es zahlreiche Aktivistinnen und Aktivisten mit den besten, sozialistischen Absichten. Wir appellieren an sie, die Grundprinzipien, auf denen das CWI seine Politik seit Jahrzehnten gründet, zu überdenken. Nur die Überwindung dieser grundlegenden Mängel wird es ermöglichen, eine gesunde neue Internationale aufzubauen, die auf authentischen, revolutionären Methoden basiert.
Wir sind von der folgenden Formel überzeugt: Die Grundlage jeder revolutionären Organisation ist eine revolutionäre Perspektive. Wie Lenin wiederholt betonte: "Es kann keine revolutionäre Praxis ohne revolutionäre Theorie geben." Dies zu erreichen ist nur möglich, wenn man die alten Positionen überdenkt und Fehler überwindet. Wie eingangs erwähnt, sind Spaltungen in der Geschichte mehrmals aufgetreten, aber sie sind nicht dazu verdammt, in Misserfolgen zu enden. Die revolutionären Bewegungen der Taboriten und Anhänger Müntzers, die sich von den Gemäßigten abspalteten, waren von historischer Bedeutung, wie Engels betonte. Die Spaltung der Bolschewiki 1903 und die Gründung der trotzkistischen Bewegung waren entscheidend für die weitere Entwicklung des revolutionären Marxismus als leidenschaftlicher Gegner des Zarismus und bürgerlichen Liberalismus sowie gegen stalinistische Degeneration. Aber solche positiven Ergebnisse von Spaltungen brauchen den Mut zum Bruch mit den Methoden der Vergangenheit. Solche positiven Ergebnisse erfordern eine offene Haltung, die jede Schlüsselposition kritisch überdenkt und wenn notwendig korrigiert.
Die RCIT würde gerne diese Themen mit euch diskutieren und eure Erfahrungen, Erkenntnisse und Argumente in Rechnung zu stellen. Ihr könnt uns unter rcit@thecommunists.net kontaktieren. Wir sind gewillt, Hand in Hand mit euch am Aufbau einer gesunden, revolutionären Internationale zu arbeiten, die auf authentischen marxistischen Prinzipien basiert.
Internationales Sekretariat der RCIT
(1) Wir appellieren an die Genossinnen und Genossen auf, das folgende Dokument zu lesen, in dem die Sichtweise des RCIT auf die entscheidenden Aufgaben in der laufenden Periode zusammengefasst ist: Große Aufgaben erfordern große Initiative! Ein Aufruf an alle revolutionären Organisationen, Aktivistinnen und Aktivisten, ihrer Verantwortung in dieser historischen Zeit gerecht zu werden! Offener Brief des Internationalen Sekretariats der Revolutionär-Kommunistischen Internationalen Tendenz (RCIT), 7 Januar 2019, https://www.thecommunists.net/home/deutsch/offener-brief-gro%C3%9Fe-aufgaben-erfordern-gro%C3%9Fe-initiative/
(2) Dazu siehe z.B. Five days that shook Britain but didn’t wake up the left. The bankruptcy of the left during the August uprising of the oppressed in Britain: Its features, its roots and the way forward, September 2011, http://www.thecommunists.net/theory/britain-left-and-the-uprising/sp-and-committee-for-a-workers-international. Um einen allzu langen Fußnotenapparat zu vermeiden, führen wir in den folgenden Fußnoten nur ein paar ausgewählte Publikationen der RCIT an. Sie enthalten in der Regel zahlreiche Zitate sowohl von Seiten des CWI als auch von den marxistischen Klassikern zu den jeweiligen Themen. Sie enthalten auch Links zu vielen anderen RCIT-Publikationen, die sich mit diesen Themen befassen.
(3) Siehe dazu unser Buch: The Great Robbery of the South. Continuity and Changes in the Super-Exploitation of the Semi-Colonial World by Monopoly Capital. Consequences for the Marxist Theory of Imperialism, RCIT Books, 2013, Chapter 12 and 13, https://www.thecommunists.net/theory/great-robbery-of-the-south/
(4) Siehe dazu z.B.: The CWI’s “Socialist” Zionism and the Palestinian Liberation Struggle, 15.9.2014, https://www.thecommunists.net/theory/cwi-and-israel/
(5) Siehe dazu z.B.: The Slogan of "Workers’" Immigration Control: A Concession to Social-Chauvinism, 27.3.2017, https://www.thecommunists.net/theory/workers-immigration-control/
(6) Siehe dazu z.B. Marxismus und die Einheitsfronttaktik heute. Der Kampf für die proletarische Hegemonie in der Befreiungsbewegung und die Einheitsfronttaktik heute. Über die Anwendung der marxistischen Einheitsfronttaktik in den halb-kolonialen und imperialistischen Ländern in der gegenwärtigen Periode, https://www.thecommunists.net/home/deutsch/einheitsfront-buch/; RCIT-Theses on Revolutionary Trade Union Policy, January 2014, https://www.thecommunists.net/theory/theses-trade-union/
(7) Siehe dazu z.B.: Das CWI und der Kalte Krieg zwischen den USA und China, 27. Mai 2019,https://www.thecommunists.net/home/deutsch/das-cwi-und-der-kalte-krieg-zwischen-den-usa-und-china/; Why Not to Vote for the Democratic Party in the Forthcoming US Elections Or At Any Other Time, 2.3.2016, https://www.thecommunists.net/worldwide/northamerica/no-vote-sanders/; Once Again: Opportunism of US Left Exposed. An Analysis of the US 2016 Elections Campaign, 14 August 2016, https://www.thecommunists.net/worldwide/north-america/left-and-us-election/.
(8) Siehe dazu z.B. https://www.leftvoice.org/open-letter-to-kshama-sawant-don-t-support-the-police
(9) Siehe dazu z.B. Syrien und der Kampf der Großmächte: Das Versagen der "Linken", 21. April 2018,https://www.thecommunists.net/home/deutsch/syrien-grossmaechte-und-linke/
(10) Siehe dazu z.B. The British Left and the EU-Referendum: The Many Faces of pro-UK or pro-EU Social-Imperialism, August 2015, siehe v.a. Kapitel II.2., https://www.thecommunists.net/theory/british-left-and-eu-referendum/
(11) Siehe dazu z.B. Das CWI und der Kalte Krieg zwischen den USA und China, 27. Mai 2019,https://www.thecommunists.net/home/deutsch/das-cwi-und-der-kalte-krieg-zwischen-den-usa-und-china/; Siehe auch unser Buch: Anti-Imperialism in the Age of Great Power Rivalry. The Factors behind the Accelerating Rivalry between the U.S., China, Russia, EU and Japan. A Critique of the Left’s Analysis and an Outline of the Marxist Perspective, RCIT Books, Vienna 2019. Siehe insbesondere die Kapitel XI und XXVIII. Das Buch kann online gelesen oder hier kostenlos heruntergeladen werden:https://www.thecommunists.net/theory/anti-imperialism-in-the-age-of-great-power-rivalry/
Für weitere Informationen siehe die Sonderausgabe unseres theoretischen Journals zur Krise des CWI hier.