Verkörpert die EU einen „bürgerlich-demokratischen Fortschritt“?

 

Noch einmal zur EU und den Taktiken der Arbeiterklasse Ein Nachtrag auf unsere Kritik zur Rechtswende von GAM/L5I und ihrer Befürwortung der EU-Mitgliedschaft

Von Michael Pröbsting, Revolutionär-Kommunistische Internationale Tendenz (RCIT), 16.9.2016, www.thecommunists.net

 

Kürzlich veröffentlichte die RCIT eine ausführliche Arbeit zum imperialistischen Charakter der EU, dem Brexit und der Taktik von revolutionären Organisationen in dieser Frage. [1] Dabei setzten wir uns eingehend mit der Rechtswende der zentristischen Organisation „Gruppe Arbeitermacht / Liga für die 5.Internationale“ (GAM/L5I) auseinander. Bekanntlich änderte die Führung von GAM/L5I kürzlich ihre Position zur EU und betrachtet diese nun als etwas für die Arbeiterklasse Fortschrittliches. Daher ruft sie nun im Falle eines Referendums – wie z.B. im Juni 2016 in Britannien – für den Beitritt zur EU bzw. für den Verbleib innerhalb dieser auf. Wir haben in unserem Essay aufgezeigt, daß die Rechtfertigung der GAM/L5I-Führung für ihre Taktik eine opportunistische Schönfärberei der EU darstellt und die Konsequenzen ihrer pro-EU-Taktik dem Sozialimperialismus Tür und Tor öffnet.

Im Gegensatz zur GAM/L5I verteidigt die RCIT die orthodoxe marxistische Position – die bis vor kurzem auch von der GAM/L5I selbst unterstützt wurde. Wir lehnen sowohl eine Unterstützung der imperialistischen EU als auch des imperialistischen Nationalstaates ab. Wir treten für einen unabhängigen Standpunkt der Arbeiterklasse ein und unterstützen daher weder die pro-EU-Fraktion noch die Anti-EU-Fraktion der imperialistischen Bourgeoise. Konsequenterweise rufen wir bei Referenden über die EU-Mitgliedschaft weder für ein JA noch für ein NEIN, sondern zur Enthaltung auf.

Kurz nachdem wir diese Arbeit veröffentlichten, erschien eine neue Ausgabe des theoretischen Journals dieser Organisation. Darin findet sich ein Artikel, der sich mit der Frage der Vereinigung Europas auseinandersetzt. [2]

Dieser Artikel enthält Großteils eine Wiedergabe von bereits in anderen Artikeln von GAM/L5I vorgebrachten Argumenten. Allerdings finden sich darin auch ein paar neue Argumente, die in Wirklichkeit den Revisionismus dieser Organisation noch weiter vertiefen und theoretisch verfestigen.

In folgendem Artikel – einer Art Nachtrag zu unserem Essay – wollen wir daher auf diese neuen Argumente eingehen und so unsere Kritik an der Rechtswende von GAM/L5I abrunden. Wir empfehlen daher den Leserinnen und Lesern, unseren Artikel im Zusammenhang mit dem oben angeführten Essay der RCIT zu lesen.

 

Die neuen Argumente der GAM/L5I-Führung

 

Im Wesentlichen verdeutlicht der neue GAM/L5I-Artikel folgende Punkte, mit denen wir uns hier kurz auseinandersetzen wollen.

Erstens bestätigt die GAM/L5I-Führung noch expliziter als bisher ihre Ansicht, daß die imperialistische EU als solche etwas Fortschrittliches und daher für die ArbeiterInnenklasse verteidigenswertes sei. Dies machen die folgenden Zitate unmißverständlich klar:

Im Gegensatz zur rein nationalstaatlichen Ordnung ist auch eine kapitalistische, bürgerlich-demokratisch ausgerichtete Föderation eine fortschrittliche Entwicklung. Dies wird von den Kritikern der EU oft vergessen…“ [3]

In dem Zusammenhang wäre auch der Kampf gegen das Grenzregime der britischen Insel zu führen, welches zu katastrophalen Zuständen auf der anderen Seite des Ärmelkanals führt. Dies würde dann in einer bürgerlich-demokratischen Föderation eher passieren und gäbe der ArbeiterInnenbewegung die Möglichkeit zusammen mit den Geflüchteten den aufkommenden rassistischen und nationalistischen Bewegungen des Bürgertums eine starke proletarische Antwort zu geben.[4]

Sicher weint kein/e Linke/r einem imperialistischen „Einigungsprojekt“ eine Träne nach. Zugleich sollte aber auch niemand vergessen: Der Zerfall der EU in einzelne „unabhängige“ Nationalstaaten, der Austritt aus der Union oder der Eurozone stellt auf der Basis des kapitalistischen Staates eine reaktionäre Antwort auf die Krise dar. Die Erweiterung der Produktivkräfte, ein größerer Wirtschaftsraum, engere, übernationale ökonomische Verbindungen, vereinheitlichtere Kommunikations- und Verkehrssysteme, größere Freizügigkeit der Arbeitskraft stellen einen Fortschritt dar, auch wenn sie unter der Ägide des Finanzkapitals „von oben“ durchgeführt wurden. Mit dem Zerfall der EU in einzelne Nationalstaaten werden auch die Grenzen zwischen den ArbeiterInnenklassen Europas wieder errichtet, wird die rassistische Abschottung weiter verstärkt. Darum waren und sind die Auswirkungen des Brexit reaktionär.[5]

Zweitens wirft die GAM/L5I-Führung nun ihre bisherige Sichtweise über Bord, laut der die Schaffung eines imperialistischen EU-Staatsapparates möglich ist. Heute schließt sie sich der traditionellen Argumentation des Stalinismus an, der eine solche imperialistische Vereinigung Europas mit falschem Verweis auf Lenin als unmöglich erklärt. Mehr noch: während die GAM/L5I-Führung Trotzkis unfertige und noch nicht entwickelte Sichtweise von 1915 unkritisch wiedergibt und als Rechtfertigung für ihre opportunistische Unterstützung der imperialistischen EU verwendet, verschweigt und verfälscht sie Lenins Haltung zur Losung der Vereinigten Staaten von Europa.

Die Krise der EU verdeutlicht aber auch eines. Die Kapitalistenklassen und die imperialistischen Staaten sind nicht fähig, den Kontinent zu einen.[6]

Die EU ist somit kein eigenständiger imperialistischer Akteur, es gibt in dieser Form keinen ‚EU-Imperialismus‘, sondern nur eine Bündelung national-imperialistischer Schnittmengen beim Aufbau transnationaler bürokratischer Strukturen, welche auch nur eine gewisse politische Souveränität und Führung mit beinhalten. Daher sind auch alle Vermutungen a la ‚Superstaat‘ grundfalsch, wie sie gerne von den ‚linken‘ Kritikern der EU ins Feld geführt werden. Hier herrscht eben kein ‚Ultraimperialismus‘, wie ihn Kautsky für die Zeit nach dem 1. Weltkrieg erhoffte. (…) Im Gegensatz dazu glauben die ‚linken‘ EU-GegnerInnen, dass es einen EU-Imperialismus gibt, geben damit aber Kautskys revisionistischer Ultraimperialismustheorie recht, gegen die Lenin ebenso nachdrücklich wie methodisch gewettert hatte. (…) Die EU ist ein halbfertiges Gebilde mit dem Problem, dass es unter kapitalistischen Bedingungen eben nicht zu ‚Ende‘ gebaut werden kann.[7]

 

Die „bürgerlich-demokratische“ imperialistische EU – ein Fortschritt für die Arbeiterklasse?

 

Wir haben bereits in unserem Essay dargelegt, daß die GAM/L5I-Führung die imperialistische EU für einen Fortschritt im Interesse der ArbeiterInnenklasse hält und diesen gegenüber einem Austritt aus der EU verteidigen möchte. Die GenossInnen sehen in der EU in erster Linie fälschlicherweise eine Weiterentwicklung der Produktivkräfte sowie einen objektiven Faktor zur Steigerung des internationalistischen Bewußtseins und des internationalen Kampfes er Arbeiterklasse.

Der neue Artikel treibt diese objektivistische und ökonomistische Argumentationslinie noch weiter. Hier wird nun die imperialistische EU nicht nur als ökonomischer Fortschritt und als objektiv fortschrittlicher Faktor für den Klassenkampf bezeichnet, sondern gleich auch noch allgemeiner als „bürgerlich-demokratischer Fortschritt“.

Dies zeigt auf, wie sehr sich die GAM/L5I-Führung bereits in ihre revisionistische Sackgasse verrannt hat. Anstatt die EU in erster Linie als imperialistische Staatsformation zu erkennen, richten die GenossInnen ihr Augenmerk auf ihren vorgeblich bürgerlich-demokratischen Charakter. Doch, wie wir in unserem Essay ausführlich darlegten, ist ihr entscheidendes Merkmal der Zusammenschluß nationaler imperialistischer Bourgeoisien – v.a. der Großmächte mit Deutschland und Frankreich an der Spitze – zu einer imperialistischen Staatenföderation (mit allen internen Widersprüchen).

In Wirklichkeit wiederspiegelt die Argumentation der GAM/L5I-Führung nur den klassischen sozialdemokratischen Mythos, wonach die westeuropäischen Staaten in erster Linie (bürgerliche) Demokratien seien und nicht imperialistische Staaten. Daraus leiteten diese in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab, warum es für die Arbeiterklasse notwendig sei, Frankreich und Britannien in den imperialistischen Weltkriegen zu verteidigen. Wir Trotzkisten lehnten immer diese Eselsweisheit des Opportunismus ab. Wir stellten ins Zentrum unserer Analyse den imperialistischen Charakter dieser Staaten und zogen daraus die Schlußfolgerung, daß die ArbeiterInnen diese Staaten unter keinen Umständen unterstützen dürften.

Die GAM/L5I-Führung hat den unbedingten Grundsatz des Marxismus vergessen, daß die imperialistischen Staaten in Europa sowie die Europäische Union als Zusammenschluß derselben keine fortschrittliche bürgerliche Demokratie darstellen und auch nicht darstellen können. Sie sind vielmehr die Staaten bzw. eine Staatenföderation von imperialistischen Bourgeoisien, die im Inneren die eigene Arbeiterklasse ausbeuten, MigrantInnen unterdrücken, die demokratischen Rechte zusehends einschränken und die nach Außen die Völker des Südens ausbeuten und immer mehr imperialistische Kriege führen. Kurz, diese Staaten verkörpern keine fortschrittliche bürgerliche Demokratie, sondern den reaktionären Imperialismus.

Auf diesen Grundsatz wies Lenin schon vor hundert Jahren hin: „Heutzutage wäre es lächerlich, im Hinblick z. B. auf solche unbedingt zentralen und hochwichtigen Mitspieler des europäischen „Konzerts" wie England und Deutschland an eine fortschrittliche Bourgeoisie, an eine fortschrittliche bürgerliche Bewegung auch nur zu denken. Die alte bürgerliche „Demokratie" dieser zentralen und hochwichtigen Staaten ist reaktionär geworden. [8]

Damit wollen wir keineswegs in Abrede stellen, daß in den Ländern Europas noch ein gewisses Ausmaß an bürgerlicher Demokratie existiert – auch wenn diese zunehmend eingeschränkt wird (siehe z.B. das Notstandsregime in Frankreich). Gerade deswegen mißt die RCIT dem Kampf für demokratische Rechte innerhalb der europäischen Staaten große Bedeutung zu – ein Kampf, der immer dringlicher wird, denn die herrschende Klasse in allen europäischen Staaten wird immer mehr zu einer anti-demokratischen, reaktionären Kraft. [9]

Aber daraus ergibt sich keineswegs die Notwendigkeit für eine Unterstützung der EU. Denn im Gegensatz zum Irrglauben der GAM/L5I-Führung verkörpert die EU keineswegs ein Mehr an bürgerlicher Demokratie als die einzelnen europäischen Nationalstaaten. Im Gegenteil, es entbehrt nicht einer Ironie, ausgerechnet die EU als „bürgerlich-demokratischen Fortschritt“ anzupreisen. Bekanntlich gibt es kaum ein europäisches Land, indem das Parlament über so wenige Befugnisse verfügt wie jenes der EU und indem die „Regierung“ (die EU-Kommission bzw. der EU-Rat) außerhalb jeglicher Kontrolle des Parlaments steht. [10]

Wir können also die Behauptung der GAM/L5I-Führung getrost zu den anderen Mythen ablegen, die sie zur Rechtfertigung ihrer opportunistischen Unterstützung der imperialistischen EU anführen.

 

Ist Trotzki ein Kronzeuge für die GAM/L5I-Losung der „Vereinigten Staaten von Europa“?

 

Die GAM/L5I-Führung stellt die Losung der Vereinigung Europas als eine an sich fortschrittliche Losung dar. Sie ignorieren dabei, daß eine solche Vereinigung unter imperialistischen Vorzeichen – also unter Führung von einer oder zwei imperialistischen Großmächten – in keinster Weise fortschrittlich ist, sondern vielmehr die Schaffung eines größeren, mächtigeren imperialistischen Staatsverbandes darstellt, die noch dazu mit der Unterwerfung kleinerer und ökonomisch schwächerer Nationen einhergeht.

Deswegen stellen MarxistInnen auch nicht die Losung der Vereinigten Staaten von Europa (ohne Klassencharakterisierung und daher implizit pro-imperialistisch) auf, sondern ausschließlich die Losung der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

In ihrem neuen Artikel wiederholt die GAM/L5I-Führung zwar auch diese Losung der sozialistischen Vereinigung Europas, aber sie verweisen explizit auch zustimmend auf die Losung der „Vereinigten Staaten von Europa“. Zu diesem Zweck führen sie Aussagen von Trotzki aus den Jahren 1915 an, in denen er die Losung der republikanischen Vereinigten Staaten von Europa aufstellt und behaupten, daß diese Losung auch heute noch zeitgemäß sei. [11]

Wohlweislich verschweigt jedoch die GAM/L5I, daß Lenin eine scharfe und unmißverständliche Kritik an dieser Losung übte:

Vom Standpunkt der ökonomischen Bedingungen des Imperialismus, d.h. des Kapitalexports und der Aufteilung der Welt durch die ‘fortgeschrittenen’ und ‘zivilisierten’ Kolonialmächte, sind die Vereinigten Staaten von Europa unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär.“ [12]

Klarer könnte man den Gegensatz zwischen der Sichtweise Lenins und jener der GAM/L5I kaum auf den Punkt bringen: Während Lenin schreibt, daß „die Vereinigten Staaten von Europa unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär“ sind, meint die GAM/L5I, daß die EU als „kapitalistische, bürgerlich-demokratisch ausgerichtete Föderation eine fortschrittliche Entwicklung“ sei.

Die gleiche ablehnende Haltung zu den bürgerlichen „Vereinigten Staaten von Europa“ nahm übrigens auch Rosa Luxemburg ein. In den von ihr verfaßten und von der Reichskonferenz des Spartakusbundes angenommenen „Leitsätzen über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie“ bezeichnete sie „europäische Staatenbünde“ und „mitteleuropäische Zollvereine“ als „utopisch oder in ihrem Grunde reaktionäre Projekte“. [13]

Es ist bezeichnend, daß die GAM/L5I-Führung mit keinem einzigen Wort Lenins Kritik erwähnt. Halten die GenossInnen diese Kritik für falsch? Dann sollten sie es sagen.

Abschließend sei erwähnt, daß sich die GAM/L5I-Führung, wie wir in unserem Essay anführten, auf Aussagen Trotzkis beruft, die dieser aufstellte bevor er seine zentristischen Schwächen vollständig überwand und sich 1917 der bolschewistischen Partei anschloß. Trotzki selber entwickelte bekanntlich diese Losung weiter und brachte sie 1923 in der Form der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa bzw. der Vereinigten Sowjetstaaten von Europa vor. Für eine ausführliche Diskussion der Entwicklung von Lenins und Trotzkis Haltung zur Losung der Vereinigten Staaten von Europa verweisen wir auf eine andere von uns verfaßte Arbeit. [14]

 

Hielt Lenin eine Vereinigung Europas unter imperialistischen Bedingungen für unmöglich?

 

Doch die GAM/L5I-Führung verschweigt nicht nur Lenins Kritik an Trotzkis Losung der republikanischen Vereinigten Staaten von Europa, sie verfälscht auch seine Haltung. Indem sie behauptet, daß Lenin eine Vereinigung Europas unter imperialistischen Vorzeichen für unmöglich hielt, widerholen sie die unsäglichen stalinistischen und zentristischen Interpretationen.

Wie das oben angeführte Zitat aus dem neuen Artikel der GAM/L5I zeigt, erklären die GenossInnen heute – wie schon früher diverse Stalinsten, aber auch trotzkoide Zentristen wie Peter Taffees CWI, Alan Woods IMT und andere – daß eine Vereinigung unmöglich sei. Sie behaupten sogar, daß die These der möglichen Vereinigung Europas im Rahmen des Kapitalismus ein Zugeständnis an die revisionistische Ultraimperialismus-Theorie eines Karl Kautskys wäre.

Das ist natürlich Unsinn. In Wirklichkeit bezog sich Kautskys Ultraimperialismus-Theorie auf die irrigen Annahme, daß ein weltweiter Zusammenschluß der imperialistischen Monopole und Großmächte möglich sei, wodurch es – so der Chef-Theoretiker des Zentrismus – zu einer Überwindung des Wettrüstens und der Gefahr eines Weltkrieges kommen könne. Diese Annahme war und ist theoretisch absurd und politisch gefährlich. Doch völlig falsch ist die Annahme, daß selbst die kapitalistische Vereinigung Europas unmöglich wäre. Dies haben wir auch in der Vergangenheit den stalinistischen und zentristischen Kritikern entgegengehalten:

Kautskys Revisionismus bestand ja nicht darin, daß er die Möglichkeit eines Zusammenschlusses von zwei oder mehreren Staaten in Erwägung zog. Vielmehr bestand sein Revisionismus darin, daß er die Möglichkeit einer Verschmelzung aller wesentlichen Kapitalien weltweit zu einem einzigen Ultraimperialismus – oder einem „Generalkartell“ wie es Hilferding bezeichnete – behauptete. Genausowenig ist es Revisionismus, wenn man den Zusammenschluß von zwei oder mehreren Konzernen für möglich hält, damit diese besser im Konkurrenzkampf bestehen können. Sehr wohl Revisionismus ist es jedoch, wenn man die friedliche, organische Vereinigung aller Kapitalien weltweit für möglich ist.[15]

Deswegen lautete Kautskys Schlußfolgerung aus seiner Ultraimperialismus-Theorie, daß in einem solchen Falle die Gefahr eines Weltkrieges gebannt sei. Dies geht auch aus folgenden Zitat aus Kautskys bekanntesten Artikel zur Ultraimperialismus-Theorie hervor:

Man kann vom Imperialismus sagen, was Marx einmal vom Kapitalismus sagt: Das Monopol erzeugt die Konkurrenz und die Konkurrenz das Monopol. Die wütende Konkurrenz der Riesenbetriebe, Riesenbanken und Milliardäre erzeugte den Kartellgedanken der großen Finanzmächte, die die kleinen schluckten. So kann auch jetzt aus dem Weltkrieg der imperialistischen Großmächte ein Zusammenschluß der stärksten unter ihnen hervorgehen, der ihrem Wettrüsten ein Ende macht. Vom rein ökonomischen Standpunkt ist es also nicht ausgeschlossen, daß der Kapitalismus noch eine neue Phase erlebt, die Übertragung der Kartellpolitik auf die äußere Politik, eine Phase des Ultraimperialismus, den wir natürlich ebenso energisch bekämpfen müßten wie den Imperialismus, dessen Gefahren aber in anderer Richtung lägen, nicht in der des Wettrüstens und der Gefährdung des Weltfriedens.[16]

Der Vergleich unserer Ansicht einer möglichen imperialistischen Einigung Europas mit Kautskys Ultraimperialismus-Theorie durch die GAM/L5I-Führung ist daher völlig falsch.

Wie wir in unserem Essay Die Frage der Vereinigung Europas im Lichte der marxistischen Theorie ausführlich darlegten, hielten die Theoretiker der Bolschewiki – und auch Trotzki selbst in einigen Zitaten – eine Vereinigung Europas unter imperialistischen Vorzeichen sehr wohl für möglich. Dies geht auch aus dem oben angeführten Zitat von Lenin hervor, laut dem „die Vereinigten Staaten von Europa unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär“ sind. Im gleichen Artikel stellte Lenin fest:

Vereinigte Staaten von Europa sind unter kapitalistischen Verhältnissen gleichbedeutend mit Übereinkommen über die Teilung der Kolonien. Unter kapitalistischen Verhältnissen ist jedoch jede andere Basis, jedes andere Prinzip der Teilung als das der Macht unmöglich. (…) Natürlich sind zeitweilige Abkommen zwischen den Kapitalisten und zwischen den Mächten möglich. In diesem Sinne sind auch die Vereinigten Staaten von Europa möglich als Abkommen der europäischen Kapitalisten ... worüber? Lediglich darüber, wie man gemeinsam den Sozialismus in Europa unterdrücken, gemeinsam die geraubten Kolonien gegen Japan und Amerika verteidigen könnte, die durch die jetzige Aufteilung der Kolonien im höchsten Grade benachteiligt und die im letzten halben Jahrhundert unvergleichlich rascher erstarkt sind als das rückständige, monarchistische, von Altersfäule befallene Europa. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten von Amerika bedeutet Europa im ganzen genommen ökonomischen Stillstand. Auf der heutigen ökonomischen Basis, d.h. unter kapitalistischen Verhältnissen, würden die Vereinigten Staaten von Europa die Organisation der Reaktion zur Hemmung der rascheren Entwicklung Amerikas bedeuten.[17]

Wir können daher auch diese Rechtfertigung der GAM/L5I-Führung für ihre sozial-imperialistische Anpassung an die EU getrost ins Reich zentristischer Märchenbildung verweisen.

 

Ist eine Vereinigung Europas unter imperialistischen Bedingungen unmöglich?

 

Kommen wir abschließend noch zur Frage, ob eine Vereinigung Europas unter imperialistischen Bedingungen tatsächlich unmöglich ist. Wir haben immer den Standpunkt vertreten – und die L5I bis vor kurzem ebenfalls – daß eine solche Vereinigung zwar auf große Hindernisse stößt, jedoch keineswegs unmöglich ist.

Die zentrale strategische Aufgabe der europäischen Bourgeoisie ist daher die verstärkte Entwicklung der EU als ein starker Herausforderer für die USA. Dazu muß sie einen qualitativen Schritt in Richtung einer ökonomisch wettbewerbsfähigen, politisch einheitlichen und militärisch (von den USA) unabhängigen Macht unternehmen und somit ein starker Mitspieler im globalen Spiel werden, der zur Herausforderung der USA fähig ist. Der Ausgang dieses Projekts des EU-Imperialismus, das in den nächsten paar Jahren umgesetzt werden soll, ist ausschlaggebend für die Herausbildung der EU als ein ernsthafter Konkurrent für den US-Imperialismus.“ [18]

„Wir können das folgende „Gesetz“ aufstellen: Je erfolgreicher die europäische Bourgeoisie der ArbeiterInnenklasse Angriffe und Niederlagen zufügt, umso leichter ist für sie die Schaffung eines vereinten imperialistischen europäischen Blocks und einer entsprechenden Staatsstruktur (unter französisch-deutscher Führung). [19]

Entscheidend ist aber nicht die Frage, ob eine Vereinigung Europas unter imperialistischen Bedingungen stattfinden wird oder nicht. Niemand kann die Realisierbarkeit einer solchen Entwicklung vorhersehen. Letztlich wird dies von zahlreichen Faktoren der kapitalistischen Krise, der globalen Rivalität zwischen den Großmächten und des Klassenkampfes abhängen.

Entscheidend sind vielmehr folgende Fragen: Gibt es seit geraumer Zeit und wird es in der vorhersehbaren Zukunft einen realen und ernsthaften Versuch der wichtigsten Monopolbourgeoisien Europas geben, den Kontinent zu vereinen (in welcher Form auch immer) und so die EU zu einer wichtigen Großmacht auf globaler Ebene zu machen? Diese Frage kann man nur eindeutig bejahen aus folgenden Gründen:

* Der Erfahrungen der letzten Jahrzehnte und der dabei stattgefundenen massiven Integration der EU (Maastricht, etc.).

* Der offen ausgesprochenen Pläne verschiedener führender Vertreter des EU-Monopolkapitals.

* Der objektiven Notwendigkeit sich zusammenzuschließen, um so gegen den Druck der anderen Großmächte (USA, China, Rußland, Japan) bestehen zu können.

Und die zweite, noch entscheidendere, Frage lautet: Selbst wenn es zu keiner Vereinigung des Kontinents durch die imperialistische EU kommt, ist es für Revolutionäre statthaft, die ArbeiterInnenklasse hinter den Karren der Monopolbourgeoisie zu spannen, indem man sie zur Zustimmung für den Beitritt bzw. den Verbleib der europäischen Staaten in der imperialistischen EU aufruft? Wie wir in unserem Essay sowie zahlreichen anderen Arbeiten gezeigt haben, können MarxistInnen auf diese Frage nur mit einem eindeutigen NEIN antworten.

Die GAM/L5I-Führung behauptet bekanntlich, daß die Mitgliedschaft in der EU objektiv die ArbeiterInnenklasse dazu zwingen würde, vermehrt international zu kämpfen. Ja, ein gemeinsamer Feind in Form der EU kann das europäische Proletariat objektiv in die Richtung drängen, gegen diesen zu kämpfen. (Es kann jedoch objektiv das Proletariat auch dazu drängen, sich der nationalistischen Rhetorik rechter Populisten „gegen die EU-Bürokratie“ anzuschließen!) Doch ungeachtet dessen – und das ist der politisch entscheidende Punkt – ist das ja wohl kaum ein Grund, daß die Arbeiterklasse für die EU-Mitgliedschaft und damit freiwillig für ihre Gefangenschaft und für ihre Gefängniswärter stimmt! Mit demselben Argument müßten GAM/L5I auch für TTIP und CETA stimmen, würden diese doch – der GAM/L5I-Logik folgend – dadurch zu einem kontinental-übergreifenden internationalen Klassenkampf führen.

Überhaupt ist MarxistInnen die objektivistische Logik der GAM/L5I-Führung fremd. Mit dieser objektivistischen Argumentation müßte sie auch den Ruin der Bauern in halbkolonialen Ländern unterstützen, wird doch dadurch objektiv das ländliche Kleinbürgertum geschwächt und das Proletariat gestärkt. Während MarxistInnen natürlich die Stärkung der Reihen des Proletariats begrüßen, bekämpfen sie jedoch Ruinierung der armen Bauern durch die Monopole und treten für Forderungen ein, die diesen Ruin verhindern.

Kurz und gut, auch der jüngste Artikel der GAM/L5I-Führung liefert keinerlei Gründe, ihrem Rechtschwenk in Richtung Unterstützung für die imperialistische EU zu folgen und damit die traditionelle marxistische Haltung des konsequenten, internationalen Antiimperialismus und revolutionären Defaitismus zu verraten.

Im Gegenteil: Die von der L5I dargelegte genauere Begründung ihres Rechtsschwenks zur Frage der EU zwingt ernsthafte Anti-Imperialisten geradezu eine scharfe Abgrenzung zu diesen Positionen vorzunehmen. Angesichts der relativ frühen Phase der imperialistischen Epoche sowie der politischen Schwächen des jungen Trotzki von 1915 war es damals zwar politisch falsch aber doch noch irgendwie erklärbar eine Losung wie die der "Vereinigten Staaten von Europa" aufzustellen. Mehr als 100 Jahre später ist eine solche Position ein trauriger Ausdruck des Unverständnisses der Leninschen Imperialismus-Theorie und ein gefährliches Einfallstor für zukünftige, weitere Rechtsentwicklungen in den Reihen der L5I.



[1] Michael Pröbsting: Die GAM/L5I und die Europäische Union: Eine Rechtswende weg vom Marxismus. Die jüngste Positionsänderung von GAM/L5I hin zur Befürwortung der EU-Mitgliedschaft verkörpert eine Abwendung von der eigenen Tradition, von der marxistischen Methode und von den Tatsachen, August 2016, in: Revolutionärer Kommunismus Nr. 20, http://www.thecommunists.net/home/deutsch/l5i-brexit/

[2] Tobi Hansen: EU-Krise und die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa, in: Revolutionärer Marxismus 48, August 2016, S. 47-85

[3] Tobi Hansen: EU-Krise und die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa, S. 60 (Unsere Hervorhebung)

[4] Tobi Hansen: EU-Krise und die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa, S. 64 60 (Unsere Hervorhebung)

[5] Redaktion: Wohin treibt Europa? in: Revolutionärer Marxismus 48, August 2016, http://www.arbeitermacht.de/rm/rm48/vorwort.htm (Unsere Hervorhebung)

[6] Redaktion: Wohin treibt Europa? in: Revolutionärer Marxismus 48, August 2016, http://www.arbeitermacht.de/rm/rm48/vorwort.htm

[7] Tobi Hansen: EU-Krise und die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa, S. 61

[8] W. I. Lenin: Unter fremder Flagge, in: LW 21, S. 129

[9] Siehe dazu u.a. Michael Pröbsting; The Struggle for Democracy in the Imperialist Countries Today. The Marxist Theory of Permanent Revolution and its Relevance for the Imperialist Metropolises, August 2015, in: Revolutionary Communism Nr. 39, http://www.thecommunists.net/theory/democracy-vs-imperialism/

[10] Wir haben uns ausführlicher mit dem EU-Vertrag und der politischen Herrschaftsverhältnisse in der EU in folgender Broschüre auseinandergesetzt: Michael Pröbsting: Der EU-Reformvertrag, seine Hintergründe und die revolutionäre Strategie, Frühjahr 2008, http://www.thecommunists.net/theory/eu-reform-vertrag/

[11] Siehe z.B. Tobi Hansen: EU-Krise und die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa, S. 55, 53 und 60

[12] W.I. Lenin: Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa (1915); in: LW 21, S. 343.

[13] Rosa Luxemburg: Entwurf zu den Junius-Thesen (1915), in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Dietz-Verlag, Berlin 1974, S. 45

[14] Siehe Michael Pröbsting: Die Frage der Vereinigung Europas im Lichte der marxistischen Theorie. Zur Frage eines supranationalen Staatsapparates des EU-Imperialismus und der marxistischen Staatstheorie. Die Diskussion zur Losung der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa bei Lenin und Trotzki und ihre Anwendung unter den heutigen Bedingungen des Klassenkampfes, in: Unter der Fahne der Revolution Nr. 2/3 (2008), http://www.thecommunists.net/theory/marxismus-und-eu/

[15] Siehe Michael Pröbsting: Die Frage der Vereinigung Europas im Lichte der marxistischen Theorie, S. 17

[16] Karl Kautsky: Der Imperialismus, in: Die Neue Zeit 32-II., 1914, 21, S.921, siehe auch Stefan Bollinger (Hrsg.): Imperialismustheorien. Historische Grundlagen für eine aktuelle Kritik, Promedia Verlag, Wien 2004, S. 119

[17] W.I. Lenin: Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa (1915); in: LW 21, S. 344f.

[18] Michael Pröbsting: Amerikanisierung oder Niedergang - Perspektiven des imperialistischen Projekts der Europäischen Union (2004), in: Revolutionärer Marxismus Nr. 35, S. 34f., http://www.thecommunists.net/theory/eu-imperialismus-2004/ Dieser Artikel wurde auch von der L5I übersetzt und in ihrem englisch-sprachigen Organ veröffentlicht. (siehe ‘Americanise or bust’ – Contradictions and challenges of the imperialist project of European unification, in: Fifth International Vol.1, No.2)

[19] Ebenda, S. 44