COVID-19: Aktuelle und historischen Wurzeln des bürgerlichen Lockdown-“Sozialismus”

Der Polizeistaat und das bedingungslose Grundeinkommen: Schlüsselelemente bei der Neuauflage des reformistischen “Kriegssozialismus” von 1914

 

Eine Broschüre von Michael Pröbsting, Internationaler Sekretär der Revolutionär-Kommunistischen Internationalen Tendenz (RCIT), 19 Dezember 2020, www.thecommunists.net

 

Übersetzung: Eva Kumar

 

 

 

 

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Einleitung

i) Unterstützung für den kapitalistischen Polizeistaat

ii) Ruf nach bedingungslosen Grundeinkommen

iii) Die revolutionäre Antwort

i) Der Chauvinistisch-Bonapartistische Staat als Feind der Arbeiter und Unterdrückten

ii) Der Niedergang des Kapitalismus: Einige Zahlen und Graphiken

iii) Der kleinbürgerliche Traum vom bedingungslosen Grundeinkommen: Eine naive und gefährliche Illusion

i) Eine Bedrohung von außen gegen uns alle, gegen die sich die Gesellschaft als Ganzes geschlossen stellen muss

ii) Vertrauen predigen in die “Fürsorge”-Phrasen der herrschenden Klassen

iii) Die staatskapitalistischen Maßnahmen als ein fortschrittlicher Schritt nach vorne

iv) Verleumdung der Gegner als Anhänger des Individualismus

v) Und all das wird heuchlerisch verbunden mit dem “orthodoxen Marxismus”

 

 

Vorwort zur deutschen Übersetzung

 

Wir freuen uns, hiermit die deutschsprachige Übersetzung dieser Broschüre der Öffentlichkeit übergeben zu können – nicht viel mehr als zwei Monate nach ihrem Erscheinen in englischer Sprache. Die RCIT hat mittlerweile an die 80 Dokumente zur COVID-19 Krise veröffentlicht – inklusive einem Buch vom Autor dieser Zeilen („The COVID-19 Global Counterrevolution: What It Is and How to Fight“). Doch die allermeisten unserer Publikationen zu dieser Frage existieren in englischer Sprache (und anderen), nicht jedoch auf Deutsch. Deswegen bietet die vorliegende Broschüre für den interessierten Leser bzw. die interessierte Leserin im deutschen Sprachraum erstmals einen ausführlicheren Einblick in die theoretische Analyse und die politischen Antworten unserer Organisation zu dieser Frage.

 

Dies erscheint uns insbesondere deswegen wichtig, da gerade im deutschen Sprachraum der Widerstand gegen die stock-reaktionäre Lockdown-Politik zunimmt. In den letzten Wochen – seit dem Erscheinen der Broschüre im Dezember 2020 – gab es z.B. in Wien Großdemonstrationen von mehr als 10.000 Menschen trotz Polizeiverbotes. Solche Ereignisse sind schon für sich genommen bemerkenswert – umso mehr aber in einem Land, dass nicht gerade für seine kämpferische Tradition an Straßendemonstrationen bekannt ist (um es diplomatisch zu formulieren)! Es unterliegt keinem Zweifel: die Wut in der Bevölkerung über die anti-demokratische Staatsrepression wächst massiv und die Unterstützung in der Öffentlichkeit für die Regierungspolitik sinkt und sinkt.

 

Unsere Organisation hat von Beginn an – seit Anfang Februar 2020 – die COVID-19 Krise ausführlich analysiert. Wir haben darauf hingewiesen, daß es sich dabei zwar um eine ernste Pandemie handelt, ihre Gefährlichkeit jedoch von den Regierungen in Ost und West massiv übertrieben wird. Wir haben davor gewarnt, daß die herrschenden Klassen weltweit diese Pandemie für politische und wirtschaftliche Zwecke ausnützen. In der vorliegenden Broschüre werden wir dies auch näher behandeln bzw. auf die entsprechenden Dokumente unserer Organisation verweisen.

 

Ich möchte mich an dieser Stelle bei meinen Genossinnen und Genossen bedanken. Ohne den regelmäßigen Austausch und die Diskussion in den internationalen Leitungsorganen der RCIT wäre es nicht möglich gewesen, eine solche intensive und tiefgreifende Arbeit in diesem so schicksalsschweren Jahr zu leisten. Insbesondere bin ich meiner Genossin Almedina Gunić zu großem Dank verpflichtet. In unzähligen Gesprächen zur COVID-19 Krise seit Jänner 2020 konnte ich von ihren Überlegungen und ihrem Wissen profitieren. Die hier dargelegten Analysen und Positionen sind ein Kollektivprodukt der RCIT, aber er sei angemerkt, daß Almedina Gunić ein besonders großer Anteil daran zukommt!

 

Abschließend möchte ich auch einen besonderen Dank an Eva Kumar aussprechen. In unzähligen Stunden aufreibender Übersetzungsarbeit hat sie die Veröffentlichung dieser Broschüre überhaupt erst möglich gemacht!

 

 

 

Michael Pröbsting                                                                                             24. Februar 2021

 

 

 

 

 

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Einleitung

 

 

Der Lockdown im Frühjahr 2020 führte unter den Linken zu einer erstaunlichen und überraschenden Reaktion. Sozialdemokraten, Stalinisten, Anarchisten und Trotzkisten waren mehr oder weniger vereint in der Anerkennung und Unterstützung der Lockdown-Politik mit all ihren damit einhergehenden Restriktionen, so wie sie von den kapitalistischen Regierungen auf der ganzen Welt verhängt wurden.

 

Natürlich waren die Linken der Bourgeoisie gegenüber nicht unkritisch. Sie kritisierten die Regierungen in mehreren Fällen, dass die Lockdowns nicht früh genug, nicht drastisch genug und nicht lange genug verhängt wurden. Und sie verlangten auch verschiedene begleitende soziale und gesundheitliche Maßnahmen – was, nicht überraschend, von der Bourgeoisie ignoriert wurde.

 

In der Hauptsache stimmten aber beide überein, die Mehrheit der herrschenden Klasse und die reformistische und zentristische Linke: einer Notlage mit massiven anti-demokratischen Einschränkungen bis hin zur Ausgangssperre für das ganze Volk zu begegnen – eine Politik, die mit Abstufungen bis jetzt verfolgt wird. Das ist der Grund, warum die RCIT diese „Sozialisten“ als „Lockdown-Linke“ bezeichnet.

 

Diese „Sozialisten“ unterstützen tatsächlich das Schlüsselprojekt der Monopolbourgeoisie in der gegenwärtigen Periode: die Ausweitung des chauvinistisch-bonapartistischen Staatsapparats. Das ist aufgrund der aktuellen Krise, in der sie sich seit Herbst 2019 befindet, das zentrale strategische Projekt der herrschenden Klasse.

 

Die imperialistische Weltordnung ist wegen drei miteinander verbundenen Entwicklungen in eine tiefe Krise geraten:

 

* der Beginn der schlimmsten Depression der kapitalistischen Weltwirtschaft seit 1929 [1]

 

* die wachsende Rivalität zwischen den Großmächten – vor allem zwischen den USA und China [2]

 

* eine globale Welle sich verschärfender Klassenkämpfe und Volksaufstände [3]

 

Das ist der Hintergrund, vor dem die herrschende Klasse Angriffe auf die demokratischen Rechte in Gang setzen musste, was zugleich mit massiver Zunahme von Arbeitslosigkeit und der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen einher ging. Diese Angriffe sind ausschlaggebend für das Ziel der Kapitalisten, die Löhne zu drücken und Massenaufstände zu verhindern.

 

In anderen Worten, die herrschenden Klassen in Ost und West nutzen die Pandemie als Vorwand, die politischen und ökonomischen Interessen des Kapitals – vor allem seiner obersten Schicht, der Monopolbourgeoisie– voranzutreiben.

 

Zu diesem Zweck übertreiben die Regierenden die Gefahr von COVID-19 aufs das Extremste. Zweifellos, es handelt sich um eine ernste Pandemie, aber sie ist weder beispiellos, noch rechtfertigt sie die öffentliche Hysterie, die von den Regierenden und der bürgerlichen Presse geschürt wird.

 

Folglich passiert die Lockdown-Politik – also die systematischen Angriffe auf die demokratischen Rechte, die Stärkung von Polizei- und Überwachungsstaat – nicht aus Sorge um die Volksgesundheit, sondern aus dem verbissenen Drang der herrschenden Elite nach mehr Macht und Profit.

 

Die RCIT hat eine umfassende und differenzierte Analyse der COVID-19 Konterrevolution in mehr als 80 Dokumenten ausgearbeitet – einschließlich eines Buches und einige Broschüren. [4] Wir haben die Lockdown-Politik von ihrem Beginn an, Anfang Februar 2020, massiv angegriffen. [5]

 

Der Zweck dieser Broschüre liegt nicht darin, unsere Analysen zu wiederholen. Noch wollen wir im Detail unsere Kritik an der Lockdown-Linken ausführen. Wir werden uns hingegen auf eine kurze Zusammenfassung der Politik dieser Reformisten und Zentristen beschränken, die wir als „Sozial-Bonapartisten“, d. h. als Unterstützer des kapitalistischen Staats-Bonapartismus unter dem Deckmantel „sozialistischer“ Phrasen, bezeichnen.

 

Stattdessen werden wir unseren Blickwinkel darauf richten, die objektive Basis für den unvermittelten Zusammenbruch der Linken aufzuzeigen. Außerdem wollen wir die historischen Ähnlichkeiten dieses neuen Sozial-Bonapartismus mit dem Programm des Kriegs-Sozialismus zeigen, der von den sozialpatriotischen Reformisten während des 1. Weltkriegs propagiert wurde.

 

Auch wenn sich die meisten Pseudo-Linken heute dessen nicht bewusst sein mögen, Tatsache ist, dass ihre Kombination aus Unterstützung für die reaktionäre Politik des imperialistischen Staates mit sozialistischen Phrasen große Ähnlichkeiten mit ihren ideologischen Vorgängern der deutschen Sozialdemokratie nach 1914 aufweist.

 

 

 

1. Ein Überblick über die Politik der Lockdown-Linken

 

Wir nennen die politische Perspektive der sozial-bonapartistischen Linken „Lockdown-Sozialismus“. Dessen Kernelement ist die Unterstützung der bonapartistischen Werte des kapitalistischen Staates (unter den Vorzeichen der Pandemie) und der Ruf nach diesem Staat, die Menschen mit einem Grundeinkommen zu versorgen (üblicherweise Bedingungsloses Grundeinkommen genannt).

 

Als die Bourgeoisie – zuerst in China, dann in Europa und allen anderen Kontinenten – mit einer beispiellosen Kampagne im Frühjahr 2020 begann, schloss sich die große Mehrzahl aller reformistischen und zentristischen Linken dieser an. Sie wiederholten, in naivem Vertrauen, die öffentliche Propaganda über die schlimmste Pandemie der modernen Geschichte und unterstützten alle Arten von Einschränkungen für die Volksmassen – von Ausgangssperren, Ausnahmezustand, bis hin zu Verboten von Großveranstaltungen, Kontrollen von Polizei und Armee in den Straßen usw.

 

 

 

i) Unterstützung für den kapitalistischen Polizeistaat

 

 

 

Da wir bereits eine detaillierte Kritik der Unterstützung der Lockdown-Linken für den kapitalistischen Staats-Bonapartismus veröffentlicht haben, werden wir uns an dieser Stelle mit einigen Beispielen begnügen. [6]

 

In Ländern, in denen die Lockdown-Linke bereits Teil der kapitalistischen Regierungen ist, fördert sie aktiv den Staatsbonapartismus. So z.b. PODEMOS, die Partido Comunista de España (PCE, Kommunistische Partei Spaniens) – die historische Partei des spanischen Stalinismus – und die mit ihr verbündete Izquierda Unida (IU, Vereinigte Linke) sind alle Teil der spanischen Regierungskoalition, angeführt vom sozialdemokratischen Premierminister Pedro Sanchez. Wie wir bereits in einem eigenen Artikel zeigten, haben sie alle voll und ganz die staats-bonapartistischen Angriffe unterstützt. [7] Die PCE veröffentlichte Stellungnahmen, die explizit sagten: „Wir heißen die Erklärung des Ausnahmezustands willkommen, der der Regierung gestattet, Maßnahmen zur Planung und Koordination der ganzen öffentlichen Verwaltung zu ergreifen.“ [8] Dasselbe fand in Südafrika statt, wo die Kommunistische Partei seit 1994 ein wesentlicher Teil der vom ANC geführten Regierung ist. Als solche teilt die SAPC die volle Verantwortung für den landesweiten, von der Armee kontrollierten Lockdown, der den Menschen aufgezwungen wurde und der massiv Hunger und Armut verursacht hat.

 

In Ländern, in denen solche Lockdown-Reformisten nicht Teil der Regierungen sind, haben sie nach repressiven Maßnahmen gegen die Massen gerufen. In Brasilien forderte die PCB in ihrem Statement das „größtmögliche Maß an sozialer Isolation“, was nichts anderes bedeutet als ein Ruf nach dem Verbot von Massenveranstaltungen und -aktivitäten. „Überall auf der Welt beinhalten die notwendigen Aktionen zur Eindämmung des Coronavirus das größtmögliche Maß an sozialer Isolation, was die wirtschaftlichen Aktivitäten der Länder in bedeutenden Maße reduziert.“ [9]

 

Die deutschen Stalinisten, Verbündete der griechischen KKE, folgten derselben bonapartistischen Linie. „Ein durchgehender Lockdown aller nicht-wesentlichen Vorgänge wäre angemessen gewesen. Doch das wurde in Deutschland nicht umgesetzt.“ [10]

 

Sogenannte „Trotzkisten“ waren um nichts besser. Die IMT, angeführt von Alan Woods, pries in ihrer zentralen Stellungnahme zur COVID-19 Krise das Vorgehen der kapitalistischen Diktatur in China und rief nach demselben Vorgehen in Europa. „An dieser Stelle ist es erwähnenswert, was chinesische Ärzte, die sich derzeit in Italien aufhalten, als notwendig erachten. Sie haben die Situation im Land beobachtet und sind aufgrund ihrer Erfahrungen bei der Bekämpfung des Virus in Wuhan der Meinung, dass es noch immer zu viel Bewegung auf den Straßen gibt. Dies bestätigt, was wir seit dem Ausbruch dieses neuen Virus sagen: Jede nicht lebensnotwendige Produktion muss gestoppt werden. Italien hätte völlig abgeschottet werden müssen, und das übrige Europa hätte Material und Humanressourcen zur Bekämpfung der ersten Verbreitung des Virus schicken müssen. Auf diese Weise hätte man den Zeitraum der Ausgangssperren kürzer und wirksamer gestalten können.“ [11]

 

Die IMT-Sektion in Österreich forderte sogar die männliche Jugend zur freiwilligen Meldung beim Wehrersatzdienst auf! „Europa ist mit der größten Notsituation seit dem 2. Weltkrieg konfrontiert. Es gilt den Aufforderungen der Gesundheitsbehörden, sich körperlich zu isolieren, Folge zu leisten. Wir unterstützen diese Maßnahme inhaltlich und praktisch. (…) Jetzt werden Zivildiener eingezogen, um den absehbaren Gesundheitsnotstand bewältigbar zu machen. Wir appellieren an die eingezogenen Jahrgänge, der Einberufung schnell Folge zu leisten, sich freiwillig zu melden und sich in den Dienst der Bekämpfung der Katastrophe zu stellen.” [12]

 

Eine andere pseudo-trotzkistische Organisation – die v.a. in Lateinamerika aktive International Workers League (LIT-CI) mit der brasilianischen PSTU als wichtigster Sektion – nahm dieselbe Position ein. Wie wir in einem anderen Artikel ausgeführt haben, verweigerte diese Organisation sogar die Unterstützung von spontanen Massenkundgebungen gegen die erzreaktionäre Bolsonaro-Regierung mit dem Verweis auf die „Gefahr der Pandemie“! [13] Die LIT veröffentlichte ein umfangreiches Aktionsprogramm gegen die COVID-19 Pandemie, welches die wesentlichen Elemente der COVID-19 Politik der Bourgeoisie enthält. [14] Es nennt die laufende Krise „die schlimmste Pandemie des Jahrhunderts“ und wiederholen damit die bürgerliche Heuchelei, die alle anderen Pandemien der vergangenen Jahrzehnte leugnet, welche jährlich Hunderttausende oder Millionen von Leben kosteten. Glaubt man der LIT-Führung, ist der Jüngste Tag nahe und „die Menschheit hilflos“. „Es ist keine Impfung in Sicht und es gibt keine heilende Behandlung. Nach Monaten der schwersten Pandemie der jüngeren Geschichte bleibt die Menschheit hilflos.

 

Wie verschiedene andere sozial-bonapartistischen Organisationen in den letzten Monaten warf die LIT der Bourgeoisie nicht das Verhängen des Lockdowns vor, sondern nicht einen längeren und strengeren Lockdown verhängt zu haben! „Im Gegensatz zu dem, was die Regierungen sagen, ist die Pandemie nicht unter Kontrolle. Im Gegenteil, es wird weltweit schlimmer. Es gibt weit mehr COVID-19 Infizierte und Getötete als die offiziellen Zahlen sagen. Die Regierungen möchten ihre absolute Unfähigkeit verbergen, die Leben der Arbeiter zu retten, sie möchten damit das Ende der teilweisen Quarantäne weltweit rechtfertigen. (…) Jetzt haben europäische Regierungen die Teil-Quarantäne beendet, um Firmen in Italien, Spanien und Frankreich zu retten. Dieses Vorgehen setzt die Arbeiter einer neuen Welle von Ansteckung durch das Virus aus. (…) Unter dem Druck der Unternehmen haben die Regierungen selbst die teilweise Quarantäne aufgegeben. Nach den Aussagen der Wissenschaftler hat kein Land – selbst nicht die am meisten betroffenen – das Stadium der Herdenimmunität erreicht, was allein die Kontrolle über die Pandemie garantiert. Alle Länder werden betroffen sein von der jetzigen oder einer neuen Welle noch bevor ein wirksamer Impfstoff oder eine wirksame Behandlung gefunden sein werden. (…) Wir verlangen eine sichere Quarantäne mit zu Hause bleiben und voller Entschädigung für alle Arbeiter, ob beschäftigt oder nicht.

 

Ähnlich die in der Tradition von Tony Cliff stehenden SWP in UK und ihre internationalen Genossen in der IST (Marx21 in Deutschland und Linkswende in Österreich). Diese Mittelschichts-Linken verlangen offen nach einem „vollen und unbegrenzten Lockdown“ (natürlich außer für die „systemrelevanten“ Beschäftigten, die weiterhin die Bedürfnisse der Mittelschicht bei sich zu Hause erfüllen sollen). „Die Tories hätten schon längst den notwendigen totalen Lockdown für Schulen und nicht-relevante Arbeitsplätze verhängen können, aber sie verschwendeten die Chance. Es muss einen totalen Lockdown bei vollem Lohnausgleich geben, und zwar nicht nur für ein Monat, sondern unbegrenzt.“ [15]

 

Eine weitere ex-trotzkistische Gruppe – die “Liga für die 5. Internationale“ – unterstützte nicht nur die Lockdown-Politik im ganzen Ausmaß, sondern rief sogar dazu auf, dass die kapitalistische Polizei diese so stark wie möglich durchsetzen möge! „Cops müssen die Gesetze durchsetzen, die die Bevölkerung vor Idioten schützen, die glauben, ihr Recht uns alle anzustecken sei unantastbar.“ [16]

 

So ist es auch nicht verwunderlich, dass die beiden letztgenannten Organisationen (ebenso wie die Stalinisten [17]) eingeschworene Unterstützer der skandalösen „ZeroCOVID“ Kampagne in Großbritannien sind. Diese angeblich fortschrittliche Kampagne kritisiert die Johnson-Regierung (die ja tatsächlich ein reaktionärer Haufen aufgeblasener Spinner ist) für die inkonsequente Verhängung von drakonischen Lockdowns. Stattdessen verlangen die Betreiber dieser Kampagne (inkl. SWP/IST und RF/L5I) „einen vollständigen UK-weiten Lockdown bis die neuen Fälle in der Gesellschaft auf null reduziert sind.“

 

Sie erklären ganz offen, dass ihr Modell einer Lockdown Strategie sich an Ländern, die Diktaturen bzw. rechte Regierungen sind oder über eine lange Tradition autoritärer Regimes verfügen, orientiert. „Es gibt eine einfache Alternative zur chaotischen Politik des „Lebens mit dem Virus“ mit ihren on-off Lockdowns, ineffektiven Test-Programmen und ständiger ökonomischer Unsicherheit. Die Alternative ist die Strategie von Australien, China, Neuseeland, Singapur, Südkorea, Taiwan und Vietnam, die alle nahezu vollständig das Virus eliminiert haben und deren Bürger das Leben ohne drakonische Lockdown-Beschränkungen genießen. Das bedeutet totaler Lockdown und sichere Arbeitsbedingungen an den essentiellen Arbeitsplätzen bis die Virusbelastung der Gesellschaft gegen Null geht, anschließend Unterdrückung von kleinen Ausbrüchen durch den öffentlichen Sektor. Finden, testen, nachverfolgen, isolieren und unterstützen, und 100% Schutz der Lebensgrundlagen.“ [18]

 

In anderen Worten, die SWP, L5I und andere predigen reaktionäre Polizeistaat-Methoden des Isolierens der Volksmassen – „erfolgreich“ umgesetzt in China, Vietnam, Australien, usw. – „Lockdown-Sozialismus“ in seiner reinsten Form.

 

Wir könnten noch viele weitere Beispielen anführen, so z.B. in Argentinien, einem Land in dem „trotzkistische“ Parteien seit einiger Zeit sehr erfolgreich sind und seit Jahren mit einigen Abgeordneten in nationalen und regionalen Parlamenten vertreten sind. FIT (U) – eine Allianz, die die stärksten dieser Parteien vereint (PTS/FT, PO/CRCI, IS/UIT und MST/LIS) – haben wiederholt die Losung aufgestellt, der de facto die Ausgangssperre für die arbeitende Bevölkerung bedeutet: „Für eine Quarantäne ohne Entlassungen, Suspendierungen und Gehaltseinbußen!“ [19]

 

Andere Organisationen waren nicht so explizit in ihrer Unterstützung der bürgerlichen Lockdown-Politik (wie z.B. das CWI, geführt von Peter Taaffe und Tony Sounois.) Aber sie unterstützen sie, indem sie sich weigern diese zu kritisieren oder zum Widerstand dagegen aufzurufen.

 

 

 

ii) Ruf nach bedingungslosen Grundeinkommen

 

 

 

Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens – BGE (Universal Basic Income) – gibt es schon lange. In den letzten Jahren haben sich immer wieder progressive Wissenschaftler für Konzepte wie dieses ausgesprochen: „eine Post-Arbeits-Gesellschaft auf der Basis einer voll automatisierten Wirtschaft aufbauen, die Arbeitswoche verkürzen, Einführung eines BGE“ [20] Diese Vorstellungen haben seit Beginn der COVID-19 Krise noch viel mehr Unterstützung bekommen.

 

In Spanien hat die Koalitionsregierung der sozialdemokratischen PSOE und der linkspopulistischen PODEMOS (der auch die stalinistische PSOE und IU angehören) vor einigen Monaten den Vorschlag eines „Living Minimum Income“ (IMV) gemacht. Das IMV würde ein Einkommen von 462 € im Monat für einen alleinlebenden Erwachsenen garantieren. Unterstützer des linken Flügels der Regierung preisen diese Initiative als ersten Schritt für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommen, während andere Aktivisten der pro-BGE Initiative diese ablehnen. [21]

 

In Kanada hat Leah Gazan – eine Abgeordnete der sozialdemokratischen NDP im Parlament vom Winnipeg – eine Kampagne zusammen mit pro-BGE Initiativen ins Leben gerufen, um für alle Kanadier über 18 Jahren ein bedingungsloses garantiertes Grundeinkommen einzuführen, das regelmäßig ausbezahlt wird und durch weitere Zuwendungen der laufenden und zukünftigen öffentlichen Dienste ergänzt werden kann. Nach einer Umfrage unterstützen 62% der lokalen Bevölkerung die Einführung eines Grundeinkommens. [22]

 

Im März 2020 unterschrieben mehr als 500 Wissenschaftler und öffentliche Personen aus der ganzen Welt einen offenen Brief, in dem sie die Regierungen aufforderten, während der Pandemie ein Notfall-Grundeinkommen einzuführen. „Wir leben in unerwarteten Zeiten – in dem Ausmaß wie sich das COVID-19 Virus auf dem ganzen Globus verbreitet, zerstört es die Grundlagen unserer globalen Wirtschaft. Und, da der Pandemie nicht nach den sonst üblichen Maßstäben der öffentlichen Gesundheitsdienste begegnet werden kann, erfordert der weltweit drohende Zusammenbruch mehr als die sonst übliche Wohlfahrtspolitik. (…) Ohne drastische Eingriffe der Regierungen werden unzählige Menschen leiden, Unternehmen werden geschlossen, Arbeitslosigkeit wird enorm steigen und die Wirtschaft wird in eine steile Rezession fallen, möglicherweise in eine zweite große Depression. Es ist an der Zeit für die Regierungen ein Notfall Universal Basic Income einzuführen, das sicherstellt, dass jeder in seinem Bereich genug Geld zur Verfügung hat, um sich mit Lebensmitteln und anderen zum Überleben wichtigen Dingen zu versorgen. Allein – ein Basiseinkommen wird nicht reichen – Migranten und Flüchtlinge werden z.B. noch weitere Unterstützung je nach ihrer Lage brauchen, und Lebensmittel und Gesundheitsdienste müssen für alle garantiert sein. Aber das bedingungslose Grundeinkommen spielt eine zentrale Rolle als Notfallschutz in dieser Krise. Ohne dieses werden viele Leben verloren sein.“ [23]

 

Einer der Unterzeichner, Jens Lerche, sprach in einem Interview die Hoffnung für das BGE als Lösung aus: „Das einzige einfache und zielführende System, das jeden durch die Krise bringen kann, ist das Bedingungslose Grundeinkommen. Es stellt sicher, dass niemand durch den Raster fällt.“ [24]

 

Teile der ex-stalinistischen Partei der Europäischen Linke – die links-sozialdemokratische Allianz von LINKE (Deutschland), PCF (Frankreich), PCE und IU (Spanien), SYRIZA (Griechenland), usw. spielen eine wichtige Rolle beim Betreiben einer breiten Kampagne in der Europäischen Union für die Einführung eines Universal Basic Income. [25] Sie stellen dieses sogar als eine Art ersten Schritt in Richtung Sozialismus dar („Für jeden gemäß ihrer oder seinen grundlegenden Bedürfnissen.“) „Ein Grundeinkommen ist nicht nur ein finanzielles Mittel unter anderen sondern ein sozialer, wirtschaftlicher und ziviler Beitrag, der weitreichende vielfältige Wirkungen in jedem Lebensbereich hat. Grundeinkommen bedeutet einen profunden zivilisatorischen Wechsel – so wie die Einführung des allgemeinen Wahlrechts oder öffentlicher Gesundheitsversorgung.“ [26]

 

Zusammen mit anderen Kräften haben sie eine Petitionskampagne an die EU-Regierungen initiiert, ein solches Grundeinkommen einzuführen: „Unser Ziel ist es, die Einführung bedingungsloser Grundeinkommen in der gesamten EU zu etablieren, die die materielle Existenz und die Möglichkeit jeder Person sicherstellen, im Rahmen ihrer Wirtschaftspolitik an der Gesellschaft teilzunehmen. (…) Wir fordern die EU-Kommission auf, einen Vorschlag für bedingungslose Grundeinkommen in der gesamten EU vorzulegen, die die regionalen Unterschiede verringern, um den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt in der EU zu stärken. Damit soll das Ziel der in 2017 formulierten gemeinsamen Erklärung des Europäischen Rates, des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission verwirklicht werden, dass "die EU und ihre Mitgliedsstaaten auch effiziente, nachhaltige und gerechte Sozialschutzsysteme zur Gewährleistung eines Grundeinkommens unterstützen werden", um Ungleichheit zu bekämpfen.“ [27]

 

Eher “orthodox-marxistische” Strömungen erinnern sich an einige Sätze der Klassiker und warnen deshalb vor der illusionären Strategie eines BGE. Nichtsdestotrotz, wie wir gezeigt haben, verlangen eine Anzahl dieser Organisationen ebenso einen unbegrenzten Lockdown „bis es sicher ist, unsere Wohnungen zu verlassen“ oder bis eine „sichere Impfung“ zur Verfügung steht. Bis dahin sollten die Menschen genug Unterstützung für den Lebensunterhalt bekommen.

 

Obwohl solche Forderungen nicht eine explizite Zustimmung für das BGE enthalten, passen sie zu dieser Politik. Wie lange möchten diese Lockdown-Linken die Menschen zu Hause einsperren? Bis es sicher ist, herauszukommen? Aber das kann ein Jahr und länger dauern! Und es ist nun bereits ein Jahr her, dass das Virus sich auf der Welt verbreitet hat. „Bis ein rettender Impfstoff zur Verfügung steht“? Aber auch hier stellt sich die Frage, wann das sein wird? Die Impfungen, die nun auf dem Markt sind, haben bestenfalls Notfallzulassungen, also keine genügenden Testphasen durchlaufen, so dass sich erst zeigen wird, ob die Impfung wirksam ist und welche Nebenwirkungen und Langzeit-Wirkungen auftreten. Insofern sind sie nicht sicher und können gar nicht sicher sein! In anderen Worten, die Politik der Lockdown-Linken bedeutet in Wirklichkeit den Ruf nach einem BGE für zumindest ein bis zwei Jahre!

 

Schließlich, wir sehen, dass die ganze „linke“ Lockdown-Politik erschreckend zynisch gegenüber der Arbeiterklasse und den unterdrückten Menschen ist. Wie kann eine Gesellschaft weiterexistieren, wenn fast alle Menschen gezwungen werden, zu Hause zu bleiben? Das ist nur möglich, wenn die Länder des Südens und die untere Schicht der Arbeiterklasse in den imperialistischen Ländern (der Großteil davon Migranten aus dem Süden) weiterhin all die Lebensmittel und Waren produzieren, die die Menschen in den reichen Ländern übers online-shopping bestellen können. In anderen Worten, die Lockdown-Politik vertieft die Spaltung zwischen den Arbeitern des Nordens und denen des Südens genauso wie die Spaltung zwischen der Mittelschicht und den besser gestellten Facharbeitern auf der einen Seite und den unteren Schichten des Proletariats (die sogenannten „systemrelevanten“ Arbeitskräfte) auf der anderen.

 

 

 

iii) Die revolutionäre Antwort

 

 

 

Viele Unterstützer der Lockdown-Linken rechtfertigen ihre Politik, indem sie sich darauf berufen, dass fast alle Regierungen der Welt auf diese Weise der COVID-19 Krise begegnen. Das ist – um es diplomatisch zu sagen – ein absolut schwachsinniges Argument! Nahezu alle bürgerlichen Regierungen weltweit haben in den vergangenen Jahrzehnten auf den Fall der Profitrate und die allgemeine Krise des Kapitalismus mit einem Programm von Einschnitten in Sozial- und Gesundheitsprogrammen, Privatisierungen, Deregulierungen, usw. reagiert. Das beweist wohl kaum die Richtigkeit der neoliberalen Doktrin („Es gibt keine Alternative“), sondern vielmehr die der marxistischen These, dass alle diese Regierungen den Interessen der kapitalistischen Klasse dienen.

 

Alle imperialistischen Regierungen reagieren auf die Zunahme der Migration mit strengen Grenzkontrollen und der Zurückweisung von Migranten von den Grenzen der reicheren Länder. Das ist ebenso wenig ein Beweis für die Richtigkeit des chauvinistischen Prinzips von Grenzkontrolle und „das Vaterland zuerst“, sondern unterstreicht vielmehr die marxistische These, dass Imperialismus von seinem Wesen her rassistisch und ein Feind der unterdrückten Menschen des Südens ist.

 

Ebenso ist es der Fall, dass alle imperialistischen Staaten die meisten Migranten in ihren Ländern als Bürger zweiter Klasse behandeln und ihnen die meisten demokratischen und sozialen Rechte verweigern. Die Tatsache, dass dies auf der ganzen Welt stattfindet, kann einen Marxisten kaum dazu verleiten, diese Unterdrückung zu unterstützten. Wir könnten mit weiteren Beispielen fortsetzen, glauben aber, dass unsere Leser verstehen, was gemeint ist.

 

Wir haben in einer Anzahl von RCIT-Dokumenten ausgearbeitet, was die revolutionäre Antwort auf die laufende Krise sein könnte. Wir wollen hier nur kurz die Hauptpfeiler unseres Programms zusammenfassen. [28]

 

Die Pandemie darf nicht mit den Methoden des bürgerlichen Polizeistaates bekämpft werden, sondern mit einem sozialistischen Gesundheitsprogramm. Wir fordern einen massiven Ausbau des Gesundheitssektors – mehr Spitäler, mehr Intensivstationen, mehr Gesundheitspersonal mit besseren Löhnen, usw. Anstatt Millionen für die Ausweitung des Polizei- und Überwachungsstaats auszugeben, sollte das Geld für einen hohen Gesundheitsmaßnahmen verwendet werden. Ebenso muss es freien Zugang zur Gesundheitsversorgung und Testmöglichkeiten geben. Es muss auch die freie Abgabe von Schutzkleidung und Hygieneartikeln sowie Testmöglichkeiten am Arbeitsplatz und an öffentlichen Orten geben.

 

Notwendige Investitionen müssen geleistet werden, um sichere Luftfilter-Systeme in geschlossenen Räumen einzurichten. Weiters verlangen wir eine Verstaatlichung aller privaten Gesundheits- und Pflege-Einrichtungen ohne Entschädigung und den Aufbau von zusätzlichen Pflegeheimen mit mehr und besser bezahltem Personal. Sozialisten sollten auch für die Verstaatlichung der pharmazeutischen und biotechnologischen Industrie eintreten, um einen zentralen Plan für die Entwicklung und Bereitstellung von sicherem Impfstoff zu realisieren.

 

Der zentrale Punkt an so einem Programm ist aber, dass er unter der Kontrolle der ArbeiterInnen und des Volkes realisiert werden muss – und nicht unter der Kontrolle des kapitalistischen Polizeistaats. Es ist klar und offensichtlich, dass die herrschende Klasse die laufende Pandemie ausnutzt, um die Kontrolle über die Menschen auszubauen. Unter keinen Umständen dürfen Sozialistinnen und Sozialisten eine solche bonapartistische Politik unterstützen, sondern müssen stattdessen auf einem Programm bestehen, das unter der Kontrolle von ArbeiterInnen und der ganzen Bevölkerung durchgeführt wird.

 

Im Interesse der Erhaltung unseres Lebensstandards müssen die ArbeiterInnen nicht nur ihre Löhne und Jobs verteidigen, sondern auch für ein öffentliches Beschäftigungsprogramm eintreten, sowie für die Verstaatlichung von Unternehmen und Banken unter der Kontrolle der ArbeiterInnen. So ein Programm muss auch den Bau neuer Häuser samt guter Infrastruktur beinhalten, um die überfüllten Slums zu reduzieren.

 

Ein weiterer entscheidender Punkt ist auch der Kampf für die Verteidigung demokratischer Rechte und gegen die Ausweitung der Macht der bonapartistischen Staatsmaschinerie.

 

Alle diese Forderungen – nach Demokratie, nach ernsthaften Gesundheitsreformen, gegen soziales Elend – können nicht erfüllt werden ohne massive Kämpfe (z.B. Massendemonstrationen, Streiks, Generalstreiks, Volksaufstände). Aus diesem Grund verlangt die RCIT nach demokratischen Massenversammlungen – was, nebenbei bemerkt, erfordert, dass SozialistInnen die anti-demokratischen Lockdown-Maßnahmen bekämpfen. Wir fordern auch die Gründung von Selbstverteidigungsgruppen gegen die brutale Polizeigewalt.

 

Letztlich kann die COVID-19 Konterrevolution nicht mit einigen sozialen und gesundheitlichen Reformen bekämpft werden. Jeder kleinste Erfolg auf diesem Gebiet würde von der herrschenden Klasse im Nu wieder bekämpft und rückgängig gemacht werden. Wie die RCIT in ihren Arbeiten erklärt, befinden wir uns in einem neuen Zeitalter der Repression und des Staatsbonapartismus. In dieser neuen Periode ist die Schlüssel-Losung die Umwandlung des Ausnahmezustandes in einen Volksaufstand. Die momentanen Ereignisse in den USA sowie in anderen Ländern (z.B. Peru, Guatemala, Nigeria, Frankreich) haben diesen strategischen Slogan voll bestätigt. Wir sind überzeugt, dass wir in der kommenden Periode noch weitere Aufstände sehen werden! Die Aufgabe von Revolutionärinnen und Revolutionären ist es, sich auf die kommenden Ereignisse vorzubereiten und zu organisieren.

 

 

2. Eine marxistische Kritik des Lockdownismus und des Bedingungslosen Grundeinkommen

 

 

 

Es ist kein Zufall, dass viele „fortschrittliche“ UnterstützerInnen der Lockdown-Politik sich auch für die Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens einsetzen, und umgekehrt, fast alle pro-BGE-Kräfte die massiven anti-demokratischen Restriktionen unter dem Vorwand von COVID-19 befürworten. Wie wir weiter unten zeigen werden, gibt es einen logischen Zusammenhang von beidem: es ist der naive Glauben an und die Unterstützung für einen wohlmeinenden autoritären Staat, der sich „um die Leute kümmert“ – in anderen Worten, es ist die Logik des Sozialbonapartismus.

 

 

 

i) Der Chauvinistisch-Bonapartistische Staat als Feind der Arbeiter und Unterdrückten

 

 

 

Wir haben in unseren Arbeiten im Detail dargelegt, dass jede Unterstützung der Linken für die Lockdown-Politik eine verräterische Kapitulation gegenüber dem chauvinistischen Staatsbonapartismus bedeutet. Folglich werden wir an diesem Punkt darauf beschränken, kurz unsere wichtigsten Kritikpunkte zusammenfassen. Erst einmal, wie wir in einigen Dokumenten gezeigt haben, rechtfertigt das Ausmaß der Pandemie nicht die umfassende Zerstörung der demokratischen Rechte wie sie seit mittlerweile 12 Monaten rund um den Globus stattfindet.

 

Weiters, wie kann ein Demokrat, eine intelligente Person, nicht zu reden von MarxistInnen, ernsthaft glauben, dass die herrschende Klasse während einer derartigen Pandemie vom Standpunkt des öffentlichen Gesundheitsinteresses aus agieren könnte? Wenn sie auf dem Gebiet der Wirtschaft handelt, tut sie das vom Standpunkt der kapitalistischen Klasse aus; wenn sie in Fragen von Krieg und Frieden handelt, tut sie das vom Standpunkt der kapitalistischen Klasse aus. Wenn sie sich mit Fragen der Migration beschäftigen, tut sie es vom Standpunkt der kapitalistischen Klasse aus. Wenn es um Ökologie geht, handeln sie vom Standpunkt der kapitalistischen Klasse aus. Wenn es um Fragen der Gesundheitspolitik geht (Krankenversicherung, die Anzahl der öffentlichen Spitäler, Bezahlung des Gesundheitspersonals, usw.), so handelt sie vom Standpunkt der kapitalistischen Klasse aus. Und wenn es um Fragen geht, die mit der Pandemie zu tun haben, würde sie nicht vom Standpunkt der kapitalistischen Klasse aus handeln?! Eine derartige Schlussfolgerung ist blanker Unsinn! Und für MarxistInnen grenzt solche Naivität an Idiotie und an politische Kriminalität!

 

Drittens, und damit verbunden, selbst wenn jemand glaubt, die Pandemie sei derartig gefährlich wie die Regierungen und deren Medien vorgeben, wie kann irgendein Demokrat, geschweige denn MarxistInnen, eine Politik unterstützen, die dramatisch die Präsenz und Kontrolle von Polizei und Heer in den Straßen verstärkt und die dramatisch die Bewegungsfreiheit und die demokratischen Rechte für das ganze Volk einschränkt?

 

Und wie kann ein Demokrat, geschweige denn Marxisten, nicht den Verdacht hegen, dass die herrschende Klasse böse Absichten hegt, wenn diese unter dem Vorwand der Pandemie eine Politik betreibt, bei der die Menschen zur Arbeit gehen, aber ihnen gleichzeitig verboten wird, sich in ihrer Freizeit zu treffen?!

 

Tatsache ist, dass die herrschende Klasse immer wieder in der Geschichte „global shocks“ – wie die OECD solche Ereignisse nennt – benutzt hat, um eine „Angst-und-Schrecken-Attacke“ auf die demokratischen Rechte der Bevölkerung in Gang zu bringen. Um nur einige zu nennen, verweisen wir auf den 1. Weltkrieg oder, ein neueres Beispiel, den 9-11 Angriff von 2001. [29]

 

Viertens, jeder Demokrat, nicht zu sprechen von Marxisten, sollte doch die anti-demokratische und gegen das Volk gerichtete Natur der Regierungspolitik gegen COVID-19 erkennen können – man nehme nur die Modi-Regierung in Indien, Netanyahu in Israel, oder die verschiedenen rechten, autoritären Regierungen in Afrika und Lateinamerika. Sollten DemokratInnen, ganz zu schweigen MarxistInnen, nicht wenigstens an diesem Punkt beginnen, kritisch über die Lockdown-Politik zu denken?!

 

Schließlich, wie kann ein Demokrat, nicht zu sprechen von Marxisten, die bonapartistische Natur der Lockdown-Politik leugnen wenn – zur gleichen Zeit – dieselben Regierungen unverhohlen reaktionäre Attacken in anderen Bereichen der Politik begehen?! Um einige Beispiele anzuführen: Israel’s nie endender Besatzungskrieg und Massenmord gegen das palästinensische Volk [30], Modis Krieg gegen Kashmir und die muslimische Minderheit in Indien [31], Macron’s Krieg gegen Muslime in Frankreich und rund um den Globus wie das Polizeistaatsgesetz seiner Regierung [32], die gegen das Volk gerichtete Politik der extrem rechts beheimateten Regierungen in Chile und Bolivien (seit den letzten Wahlen) [33], die extrem repressive Politik der Xi-Diktatur in China, in Hongkong, Xinjiang/Ost-Turkestan so wie im ganzen Land [34], usw.

 

Wie ist es möglich, dass Marxisten durchaus den reaktionären Charakter dieser Regime erkennen – aber wenn es um die COVID-19 Politik derselben Regierungen geht, hätten sie plötzlich aufgehört reaktionär zu sein?! Ist es nicht offensichtlich, dass eine solche Sichtweise nicht nur gegen die fundamentalen Prinzipien des Marxismus verstößt, sondern selbst gegen den grundlegendsten Menschenverstand?

 

Nein, es ist klar und unbestreitbar, dass die COVID-19 Politik der bürgerlichen Regierungen auf der ganzen Welt Teil einer breiten Agenda der herrschenden Klassen ist: die Bildung von „Starken Führer-Regimen“ die mit eiserner Faust regieren, um das kapitalistische System in Zeiten des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, Rivalitäten zwischen den Staaten und Massenproteste zu schützen. In anderen Worten, die Lockdown-Politik ist Teil einer umfassenden Strategie der Monopolbourgeoisie: der Aufbau eines chauvinistisch-bonapartistischen Staates. Marxisten sollten sich sehr klar über die Natur dieses Monsters sein: ein solcher Staat ist das Instrument der herrschenden Klasse und demzufolge der Feind der Arbeiterklasse und der Unterdrückten.

 

Wir schließen dieses Kapitel, indem wir auf die wohlbekannte Formel des preußischen Kriegstheoretikers Carl von Clausewitz verweisen: „Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. [35] Wie bekannt, ist diese Formel viele Male von Lenin und anderen Marxisten zustimmend zitiert worden. Wir haben in unserem Buch über die COVID-19 Konterrevolution ausgeführt, dass diese grundlegende Einsicht nicht nur für Kriege gültig ist, sondern auch für andere Bereiche der bürgerlichen Politik. In Wirklichkeit „ist sie gleichermaßen anwendbar für die Gesundheitspolitik. Tatsächlich können wir sagen, dass die Gesundheitspolitik eine Fortsetzung der allgemeinen Politik mit anderen Mitteln ist. Anders ausgedrückt, die Gesundheitspolitik der Bourgeoisie folgt nicht speziellen Gesetzen, die sich von anderen unterscheiden. Sie sind der allgemeinen Strategie der herrschenden Klasse untergeordnet. Demzufolge ist die bürgerliche Offensive der politischen Konterrevolution eine natürliche Folge ihrer durchgehenden Politik, die Macht aufrechtzuerhalten und ihre Profit-Interessen zu schützen. Sie passen lediglich ihre Strategie den aktuellen außerordentlichen Umständen an (beginnend mit der Dritten Depression und der weltweiten Welle von Volksaufständen seit Ende 2019, der COVID-19 Pandemie seit Januar 2020).“ [36]

 

RevolutionärInnen haben die Avantgarde voll zu unterstützen, das Wesen dieses Prozesses zu verstehen und die ArbeiterInnen und Unterdrückten mit einem Programm des Kampfes gegen diese Offensive der Bourgeoisie zu unterstützen. Da die Lockdown-Politik nur „eine bloße Fortsetzung der bürgerlichen Politik mit anderen Mitteln“ ist, muss auch die Position der Arbeiterklasse „eine bloße Fortsetzung ihrer anti-kapitalistischen Politik mit anderen Mitteln“ sein.

 

Sie muss sich der Lockdown-Politik entgegenstellen, wie sie sich anderen Aspekten der kapitalistischen Politik entgegenstellt (Sparpolitik, Rassismus, Kriegstreiberei usw.)

 

 

 

ii) Der Niedergang des Kapitalismus: Einige Zahlen und Graphiken

 

 

 

Während wir verstehen, dass viele fortschrittliche AktivistInnen die Forderung nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen unterstützen, um die sich ausweitende Verelendung zu beseitigen, glauben wir, dass solche Hoffnungen falsch sind.

 

MarxistInnen lehnen das Bedingungslose Grundeinkommen als illusionäres Konzept ab. Und nicht nur das, es ist eine gefährliche Falle für den Kampf der ArbeiterInnen und Unterdrückten. Wir wollen kurz erklären, warum das der Fall ist. BGE ist ein illusionäres Konzept, weil es auf der Idee basiert, dass ein „sozialer Kapitalismus“ möglich wäre. Dergleichen ist aber unmöglich, weil das gesamte System der Marktwirtschaft auf der Ausbeutung der Arbeiterklasse und der imperialistischen Überausbeutung der unterdrückten Völker des Südens beruht [37] (sowie der MigrantInnen in den reichen Ländern). [38] Dieses System ist zum Untergang verdammt und erfährt tatsächlich seit einer Reihe von Jahren fortschreitenden Verfall. Unter diesen Bedingungen erscheint die wachsende Rivalität zwischen den kapitalistischen Monopolen sowie den Großmächten unvermeidlich. Wir beschränken uns an dieser Stelle auf einige Anmerkungen zu diesem Thema, da wir bereits in zahlreichen Arbeiten auf diesen historischen Niedergang des Kapitalismus eingegangen sind. [39]

 

In Tabelle 1 zeigen wir den Fall der jährlichen, durchschnittlichen Zuwachsraten des weltweiten Brutto-Inlandsproduktes (BIP), von +5.84% (1960–70), +4.09% (1970–80), +3.46% (1980–90), +3.04% (1990–2000) bis +2.66% (2000–10).

 

 

 

Tabelle 1. Entwicklung des weltweiten Brutto-Inlandsproduktes (BIP), 1960–2010 (in absoluten Zahlen und durchschnittliches jährliches Wachstum) [40]

 

Globales BIP                                      Durchschnittliche jährliche

 

in absoluten Zahlen                         Wachstumsrate (10 Jahre)

 

 

 

1960: 7279                           

 

1965: 9420                                           

 

1970: 12153                                         1960–1970: +5.84%

 

1975: 14598                                        

 

1980: 17652                                         1970–1980: +4.09%

 

1985: 20275                                        

 

1990: 24284                                         1980–1990: +3.46%

 

1995: 27247                                        

 

2000: 32213                                         1990–2000: +3.04%

 

2005: 36926                                        

 

2010: 41365                                         2000–2010: +2.66%

 

Legende: BIP-Zahlen sind in Milliarden konstanter US-Dollars des Jahres 2000. Die Wachstumszahlen für den 5-Jahres bzw. 10-Jahresdurchscnitt sind unsere Berechnungen.

 

 

 

Das Jahrzehnt seit 2010 weist das niedrigste Wachstum innerhalb der Expansionsphase eines Wirtschaftsszyklus auf und Ende 2019 trat die Weltwirtschaft in die schlimmste Depression ein, die es jemals gab. Das geht eindeutig aus den Abbildungen 1 und 2 hervor. Abbildung 2 – die eine breitere historische Perspektive zeigt, da sie bis 1871 zurückgeht – zeigt, dass 2008 eine Phase des Niedergangs eingeleitet hat, die der krisengeschüttelten Periode der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ähnelt.

 

 

 

Abbildung 1. Weltweite Wachstumsrate von Output, Output pro Kopf, Industrieproduktion und Handel, 1950-2019 [41]

 

 

 

 

Abbildung 2. Wachstum des weltweiten BIP 1871-2020 [42]

 

 

 

 

Wie wir in unseren Dokumenten gezeigt haben, ist die grundlegende Tendenz, die als treibende Kraft hinter der historischen Krise des Kapitalismus wirkt, der tendenzielle Fall der Profitrate. Wie allgemein bekannt, hat Marx im dritten Band des Kapitals dieses grundlegende Gesetz ausgearbeitet. Es bedeutet grundsätzlich, dass auf lange Sicht der Anteil des Mehrwerts schmaler wird verglichen zu dem gesamten Kapital, das in die Produktion investiert worden ist (in Maschinen, Rohmaterial, etc., ebenso wie die Lohnkosten für die Arbeiter). Aus diesem Grund wird der Mehrwert, der sonst für die Vermehrung des Kapitals gebraucht wird, auf lange Sicht (relativ) weniger und weniger. Das führt unweigerlich zu Verwerfungen und Krisen und einem historischen Niedergang, da es für die Kapitalisten zunehmend weniger profitabel wird, in die Erweiterung der Produktion zu investieren.

 

Normalerweise sind Überakkumulation von Kapital, Überproduktion von Waren und der tendenzielle Fall der Profitrate keine linearen Prozesse, denn ihr Tempo und ihre Dynamik werden auch beeinflusst durch verschiedene, entgegengesetzte Tendenzen, insbesondere durch das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, also v.a. dem politischen Klassenkampf. [43] Obwohl solche Faktoren den Fall der Profitrate zeitweise verlangsamen oder bremsen können (wie es in den 1990ern z.B. als ein Resultat der Kombination von neoliberaler Offensive, der Ausweitung der imperialistischen Globalisierung und dem Zusammenbruch der stalinistischen Arbeiterstaaten der Fall war), können solche Vorgänge auf lange Sicht den Fall nicht aufhalten oder gar umkehren. (siehe Abbildung 3)

 

 

 

Abbildung 3. Weltweite Profitrate (1950-2010) [44]

 

 

 

 

 

 

Zusammengefasst – der Kapitalismus ist im Niedergang wegen der grundlegenden Gesetze dieses Systems und nicht wegen schlechter Politik dieses oder jenes Landes oder wegen der Gier der einzelnen Kapitaleigentümer. Demzufolge ist der Prozess der absoluten Verarmung der Arbeiterklasse das Resultat des Gesetzes der kapitalistischen Akkumulation, wie von Marx im Band I des Kapital ausgeführt: “Wir sahen im vierten Abschnitt bei Analyse der Produktion des relativen Mehrwerts: innerhalb des kapitalistischen Systems vollziehn sich alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit auf Kosten des individuellen Arbeiters; alle Mittel zur Entwicklung der Produktion schlagen um in Beherrschungs- und Exploitationsmittel des Produzenten, verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine, vernichten mit der Qual seiner Arbeit ihren Inhalt, entfremden ihm die geistigen Potenzen des Arbeitsprozesses im selben Maße, worin letzterem die Wissenschaft als selbständige Potenz einverleibt wird; sie verunstalten die Bedingungen, innerhalb deren er arbeitet, unterwerfen ihn während des Arbeitsprozesses der kleinlichst gehässigen Despotie, verwandeln seine Lebenszeit in Arbeitszeit, schleudern sein Weib und Kind unter das Juggernaut-Rad des Kapitals. Aber alle Methoden zur Produktion des Mehrwerts sind zugleich Methoden der Akkumulation, und jede Ausdehnung der Akkumulation wird umgekehrt Mittel zur Entwicklung jener Methoden. Es folgt daher, daß im Maße wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muß. Das Gesetz endlich, welches die relative Übervölkerung oder industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Akkumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert.” [45]

 

In anderen Worten: “sozialer Kapitalismus” ist ein kleinbürgerlicher Wunschtraum, da ein Kapitalismus ohne die zunehmende Verarmung der arbeitenden Klassen unmöglich ist.

 

 

 

iii) Der kleinbürgerliche Traum vom Bedingungslosen Grundeinkommen: Eine naive und gefährliche Illusion

 

 

 

Heißt das, dass MarxistInnen dem alltäglichen Kampf der ArbeiterInnen um die Verteidigung ihrer Lebensgrundlagen tatenlos und passiv zusehen sollen? Natürlich nicht! Aber man muss von einer realistischen Einschätzung ausgehen. Anstatt die Illusion eines sozial gerechten Kapitalismus zu verkünden – oder auch nur eine Form des Systems, in dem die Volksmassen mit einem angemessenen Einkommen leben können – haben Marxisten eine andere Perspektive. Sie sagen, dass nur wenn sich Arbeiter organisieren und als Klasse an den Arbeitsplätzen und in den Straßen kämpfen, nur dann können sie erreichen, dass der eine oder andere Angriff der Kapitalisten hinausgezögert werden kann.

 

Aber selbst derartige Erfolge sind nur von kurzzeitiger Natur und früher oder später wird die kapitalistische Klasse ihre Angriffe mit größerer Heftigkeit wiederholen. Letztendlich ist das kapitalistische System dazu verurteilt zusammenzubrechen und Katastrophen auszulösen (wirtschaftliche Depression, ökologische Katastrophen, große Kriege usw.). Folglich dürfen die Arbeiter und Unterdrückten sich nicht damit begnügen, die eine oder andere Reform zu erreichen, sondern tun gut daran sich für eine sozialistische Revolution zu organisieren, um dieses System zu überwinden.

 

Sie müssen jeden einzelnen Kampf für eine Reform oder zur Verteidigung gegen kapitalistische Angriffe nützen, um ihre politischen und ökonomischen Organisationen zu stärken und sich für die sozialistische Revolution vorzubereiten – national und international.

 

Um irgendeinen Erfolg zu erringen – sich gegen Angriffe verteidigen, Reformen zu erreichen oder gar den Kapitalismus zu überwinden – muss die Arbeiterklasse ihre Stärke mobilisieren und einen Krieg gegen die Bourgeoisie führen, und zwar dort, wo es diese am meisten schmerzt: an den Arbeitsplätzen, wo der kapitalistische Mehrwert durch die Arbeitskräfte geschaffen wird. Daraus folgt, dass SozialistInnen keine Standpunkte vertreten dürfen, die den Fokus von den Arbeitsplätzen ablenkt.

 

Die Hauptaufgabe muss vielmehr darin bestehen, dass Arbeiterinnen und Arbeiter in Jobs arbeiten, dass sie versuchen die Kontrolle über den Arbeitsprozess zu erlangen und Unternehmen übernehmen. Der Slogan eines Bedingungslosen Grundeinkommens ist ein Hindernis für diese Perspektive. Er richtet den Blick auf ein ausreichendes Einkommen außerhalb eines Arbeitsplatzes, ohne Job. Er dient in Wirklichkeit der kapitalistischen Klasse, da es die Aufmerksamkeit der ArbeiterInnen vom Kampf am Arbeitsplatz und vom Kampf um Jobs ablenkt – und stattdessen darauf, ein Almosen vom kapitalistischen Staat zu bekommen.

 

Aber ohne Jobs, ohne Möglichkeit, sich am Arbeitsplatz zu organisieren, haben ArbeiterInnen viel weniger Kraft zu kämpfen und die Kapitalisten zu treffen. In einem solchen Fall können sie sich nicht täglich am Arbeitsplatz treffen und sich organisieren. Sie sind daher in einer viel schwierigeren Situation, um Druck auszuüben, da es die Kapitalisten am meisten schmerzt, wenn Arbeiter streiken und keinen Mehrwert – der Grundlage für den kapitalistischen Profit – produzieren.

 

Natürlich ignorieren MarxistInnen nicht die Vorgänge außerhalb der Arbeitsplätze. Aber um bessere Löhne zu erreichen oder besseren Zugang zum Gesundheitssystem zu erlangen, erreichen ArbeiterInnen das eher, wenn sie Streiks am Arbeitsplatz organisieren können, als ohne Arbeitsplatz.

 

Infolgedessen betrachten MarxistInnen die Forderung nach dem Bedingungslosen Grundeinkommen als demobilisierend, d.h. eine Forderung, die den Kampf der ArbeiterInnen und Unterdrückten schwächt. Anstatt sich als kämpferische Klasse zu organisieren, führt der BGE-Slogan dazu, dass ArbeiterInnen und Unterdrückte sich als eine Schicht von Bettlern wiederfinden, die hofft, dass der bürgerliche Staat sie regelmäßig mit Almosen versorgt. Und wenn der Staat – wegen seiner Sparprogramme - damit aufhört oder das BGE einfach streicht (und solche Angriffe sind unvermeidlich, wenn man den auf lange Sicht krisengebeutelten Kapitalismus und seinen Zerfall betrachtet)?! Wie können ArbeiterInnen und Unterdrückte kämpfen, wenn man sie zu Bettlern reduziert?!

 

Aus allen diesen Gründen lehnt RCIT die Losung eines Bedingungslosen Grundeinkommens als für ArbeiterInnen und Unterdrückte illusionäre und gefährliche Falle ab, die nur der Bourgeoisie dient.

 

 

3. Die bürgerliche Ideologie des “Fürsorge-Staates” (Der kapitalistische Almosen-Staat)

 

Es ist kaum überraschend, dass ein Teil der Monopolbourgeoisie die Forderung nach dem Bedingungslosen Grundeinkommen aufgenommen und in ihr chauvinistisch-bonapartistisches Programm übernommen hat. Tatsächlich realisiert eine wachsende Anzahl von bürgerlichen Ideologen, dass die Doktrin des „freien Marktes“ und des Neoliberalismus dysfunktional wird. Diese Ideologie hat wegen des offensichtlichen Scheiterns des Kapitalismus vor allem seit der großen Rezession 2008 jeden Reiz verloren. Außerdem passt die Ideologie nicht mehr zu den politischen und ökonomischen Interessen der Monopolbourgeoisie in Zeiten, die von Großmächte-Rivalitäten, Katastrophen und dem Zusammenbruch des Kapitalismus gekennzeichnet sind.

 

Tatsächlich hat die Idee des BGE eine lange Geschichte. Milton Friedman – der „Vater“ des Neoliberalismus – hat ähnliche Gedanken vor mehr als einem halben Jahrhundert vertreten. In zwei Büchern – die er zusammen mit seiner Frau Rose veröffentlicht hat – entwickelte er den Begriff der “negativen Einkommensteuer”. „Die Vorteile dieser Maßnahme liegen offen auf der Hand. Sie ist speziell auf das Problem der Armut ausgerichtet. Die Hilfe erfolgt hierbei in der für den einzelnen nützlichsten Form, als Bargeld. Sie ist allgemein anwendbar und konnte anstelle der Vielzahl der derzeitig angewendeten Sondermaßnahmen eingeführt werden. Sie zeigt die Kostenbelastungen der Gesellschaft deutlich auf. Sie funktioniert ohne Beeinträchtigung des Marktes. Wie jede Maßnahme gegen die Armut verringert sie den Antrieb der Unterstützungsempfänger, sich selbst zu helfen, schlie.t diesen Antrieb jedoch nicht völlig aus, wie das bei einem System der Einkommensunterstützung bis zu einem festgelegten Minimum der Fall wäre. Jeder zusätzliche Verdienst wurde bedeuten, dass mehr Geld zum Ausgeben zur Verfügung stünde.“ [46]

 

Die meiste Zeit wurden solche Konzepte weitgehend ignoriert – von beiden: der Bourgeoisie ebenso wie der Linken. In den letzten Jahren allerdings, als der Niedergang des Kapitalismus zunehmend sichtbar wurde, gewann die Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens und, allgemeiner, der Aufbau eines „fürsorglichen Kapitalismus“ eine zunehmende Zahl an Anhängern sowohl in der Bourgeoisie als auch unter ihren Ideologen.

 

Vor zwei Jahrzehnten veröffentlichte Ronald Glassmann, ein Professor der Soziologie an einer Universität in New Jersey ein Buch mit dem Titel „Caring Capitalism“. Darin warnte dieser progressive Liberale vor den sozialen Gefahren eines ungebremsten Kapitalismus und mahnte, dass “es eine erneute Wendung hin zum Humanismus geben muss. (…) Der Markt muss dazu ermutigt werden, wenn auch im mäßigen Schritten. (…) Ein ’ fürsorglicher Kapitalismus’ könnte dann eine Wirtschaft im Überfluss – sowohl bei Gütern als auch bei Dienstleistungen - ermöglichen.” [47]

 

Angesichts der verheerenden Erfahrung der großen Rezession von 2008/09 veröffentlichte Lew Daly, ein evangelikaler Konservativer in den USA ein Buch mit dem vielsagenden Titel „God’s Economy. Faith-Based Initiatives and the Caring State”. Wenig überraschend betont der Autor die Notwendigkeit einer traditionellen Gesellschaft, die auf Familie und Staat beruht. Ein solches Ziel kann, wie auch andere Unterstützer des Kapitalismus schmerzhaft herausfinden mussten, nicht mit der Hilfe der spontanen Kräfte des Marktes erreicht werden. Daher beten sie um die Hilfe Gottes und, konkreter, setzen ihre Hoffnung auf einen „fürsorglichen Staat“. „Sicherheit für den Lebenszyklus der Familie ist der grundlegende moralische Zweck einer politischen Ordnung und das eigentliche soziale Ziel des fürsorglichen Staates“. [48]

 

Aber es waren nicht nur Wissenschaftler sondern sogar einige der Superreichen, die in den letzten Jahren zu Vertretern des BGE-Konzepts wurden. Facebook CEO Mark Zuckerberg sagte in einer Rede im Jahre 2017: “Die größten Erfolge erwachsen aus der Freiheit zu scheitern. Nun ist es für uns an der Zeit einen neuen Generationenvertrag festzulegen. Wir sollten Ideen wie das Bedingungslose Grundeinkommen untersuchen, um jedem eine Art Polster zu geben, um neue Dinge ausprobieren zu können“. [49]

 

Ein weiterer High-Tech Monopolkapitalist, Sam Altman, der Präsident der Risiko-Kapital-Gesellschaft Y Combinator, ist auch ein engagierter Vertreter des BGE geworden und hat ein Pilotprojekt in Oakland gestartet. “Um es klar zu sagen: wir glauben, dass BGE eine Basis sein kann, und wir glauben, dass die Menschen so viel arbeiten und verdienen können sollen, wie sie wollen. Wir hoffen, ein Minimum an wirtschaftlicher Sicherheit wird den Menschen die Freiheit verschaffen, weitere Ausbildungen und Trainings zu machen, einen besseren Job zu schaffen oder zu finden, und einen Plan für die Zukunft verfolgen. Wir werden die nächsten Monate damit verbringen, ein entsprechendes Pilotprojekt zu entwickeln.“ [50]

 

Auch Tesla’s Elon Musk gehört zu den BGE Unterstützern. Er sagte in einer Rede auf dem Weltregierungsgipfel in Dubai 2017: “Ich glaube, wir werden alle das BGE machen. Es wird nötig sein.“ [51]

 

Es ist nicht überraschend, dass große Kapitalisten wie Zuckerberg, Altman und Tusk die Idee des BGE unterstützen, da sich dadurch verschiedene Vorteile für ihre multinationalen Konzerne ergeben. Erst einmal würden sich die Personalkosten stark verringern, da das BGE – getragen vom Staat – einen großen Teil davon ausmacht. Und weiters würden sich die Unternehmer weitere Kosten an Aus- und Fortbildung ersparen, die ebenso vom Staat mittels BGE bezahlt würden. Nicht zufällig erwähnen sie fast immer die Rolle der Ausbildung, wenn vom BGE die Rede ist.

 

Und zu guter Letzt verschärft das BGE die Unterschiede zwischen migrantischen Arbeitskräften aus halb-kolonialen Ländern und anderen Teilen der Arbeiterklasse. Der Grund dafür ist, dass ein solches BGE nur für die (meistens weißen) ArbeiterInnen mit Staatsbürgerschaft zugänglich wäre, aber nicht für MigrantInnen (oft mit ausländischem Pass). Folglich würden die ausländischen Arbeitskräfte mit deutlich niedrigeren Löhnen zurückbleiben.

 

Es erübrigt sich festzustellen, dass eine solche Entwicklung für Unternehmen wie Tesla, Google und andere – die sich in hohem Maß auf die Arbeit von MigrantInnen stützen – höchst profitabel wäre! Für migrantische ArbeiterInnen würde das nicht nur niedrigere Löhne bedeuten, sondern sie wären - noch mehr als jetzt – gezwungen mehrere Jobs anzunehmen, um zu überleben.

 

Ein weiterer prominenter Unterstützer des Bedingungslosen Grundeinkommens ist Andrew Yang, ein liberaler Kapitalist, der an den Vorwahlen der Demokraten für die US-Präsidentschaft 2020 teilgenommen hat. [52] Er schlägt eine "Freedom Dividend", ein monatliches BGE in der Höhe von $1000 für jeden amerikanischen Erwachsenen vor. „Der erste grundlegende Wandel wäre die Einfühung eines Bedingungslosen Grundeinkommens, welches ich “Freedom Dividend” nenne. Die USA sollten ein jährliches Grundeinkommen für jeden Amerikaner zwischen 18 und 64 Jahren bezahlen, das an die Inflation angepasst wird. (…) Es würde die meisten der bereits existierenden Wohlfahrtsprogramme ersetzen. Dieser Vorschlag geht zurück auf Andy Stern, den Vorsitzenden der größten Gewerkschaft des Landes, der ihn in seinem Buch: Raising the Floor, ausführt.” [53]

 

Ein bis zu einem gewissen Grad entwickelteres Modell des kapitalistischen Fürsorge-Staates können wir in Ostasien sehen. Hier haben wir den Typ Kapitalismus mit einem „starken Staat“, d.h. einen allumfassenden bonapartistischen Staatsapparat, der in allen Aspekten des sozialen Lebens interveniert. Zwei wissenschaftliche Autoren, Minh T.N. Nguyen und Meixuan Chen, führten dazu vor einigen Jahren aus: „Was besonders ist am Wachstum des sozialen Schutzes in Vietnam und China unter Bedingungen des Markt-Sozialismus, ist die starke Rolle des Einparteien-Staates, der nicht nur unerbittlich die Bildung des selbst-verantwortlichen moralischen Subjekts fordert, sondern auch die moralischen Verpflichtungen der nichtstaatlichen Institutionen unter Kontrolle hat.“ [54]

 

Wie wir sehen schwirren Konzepte für den Fürsorge-Staat und das Bedingungslose Grundeinkommen schon seit einiger Zeit herum. Jedenfalls schreitet die Transformation des krisen-geschüttelten Kapitalismus in das Stadium des aktuellen Niedergangs und Zusammenbruchs seit Ende 2019 voran und hat die führenden Verfechter des Kapitalismus – oder zumindest einen großen Teil von ihnen – motiviert, nach neuen Ideologien zu suchen oder besser gesagt, ihr ideologisches Arsenal aufzurüsten und auszuweiten.

 

Die klassische rechte, bonapartistische Ideologie bleibt dem Chauvinismus (gegen nationale Minderheiten, rivalisierende Staaten usw.), Law-and-Order, Kriegstreiberei gegen innere und äußere Feinde, usw. treu. Trump, Modi, Netanyahu, Bolsonaro, Orbán, usw. sind aktuelle Beispiele für diese Strömung, die wir als traditionelle rechte reaktionäre Kräfte charakterisieren können. Es ist kein Zufall, dass diese Kräfte in den letzten Jahren ihren Einfluss massiv ausweiten konnten.

 

Es entsteht jedoch noch eine weitere Strömung in der obersten Schicht der Bourgeoisie. Diese Strömung versucht den chauvinistischen bonapartistischen Staat mit anderen Elementen zu verbinden, die wir integrativ-sozialliberal nennen können. Repräsentanten dieser Strömungen sind Macron, Merkel, Sanchez, Kurz und der neue US-Präsident Biden. Die Vertreter dieser Strömung sind tatsächlich gefährlicher als der erste Typus, weil sie geschickter sind, die Arbeiterbewegung zu manipulieren und die Volkmassen zu befrieden. Eine solche Integrationspolitik ist besonders dringend in der laufenden Periode, in der wir eine globale Welle von Volksaufständen erleben. Trumps Scheitern darin, den BLM/George Floyd Aufstand im Sommer 2020 zu stoppen, ist ein gutes Beispiel, das die Ohnmacht der rechten reaktionären Kräfte in solchen Situationen aufzeigt.

 

In der Folge kombinieren die sozial-liberalen Bonapartisten – wenn wir diese zweite Strömung so nennen wollen – die Stärkung des Polizei- und Überwachungsstaats (Lockdown-Politik) und den islamophoben Chauvinismus (z.B. Razzien und innerstaatliche Repression gegen Muslime sowie aggressive Außenpolitik im Nahen Osten) mit liberaler und integrativer Rhetorik. Abgesehen davon, dass sich die Ideologie dieser Kräfte noch in im Prozess der Ausformung befindet, können wir doch schon einige wichtige Elemente feststellen.

 

Seit Beginn der COVID-19 Krise hat eine wachsende Zahl von akademischen Institutionen mit dem Ruf nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen begonnen. Dazu zwei Beispiele:

 

In diesem Editorial diskutieren wir das BGE als eine mögliche Lösung für eigie Konsequenzen der COVID-19 Pandemie und daher als eine langfristige Lösung für unsere sich im Wandel befindliche Wirtschaft, die sich in zunehmenden Maße durch prekäre Beschäftigung und Einkommensunsicherheit auszeichnet.” [55]

 

Die COVID-19 Pandemie ist eine gwaltige Herausforderung (…) Für Regierungen, Organisationen und Individuen … stellt das BGE-Programm eine vorteilhafte politische Option dar, um finanzielle Unterstützung zu gewähren.” [56]

 

Noch wichtigere, prestigeträchtige Institutionen und Publikationen der Monopolbourgeoisie stehen ebenso hinter der Notwendigkeit einer staatskapitalistischen Intervention und dem BGE. Anfang April – auf der Höhe der Lockdown-Politik im Frühjahr 2020 hat die Financial Times – eine Art Zentralorgan der westlichen Monopolbourgeoisie – ein beachtenswertes Editorial veröffentlicht, in dem sie nach einer „aktiven Rolle des Staates“ in der Wirtschaft ebenso wie notwendige Sozialreformen wie dem BGE verlangt: “Es wird notwendig sein, radikale Reformen – die die bislang vorherrschende politische Ausrichtung der vergangenen vier Jahrzehnte umkehrt – auf den Tisch zu legen. Regierungen warden eine aktivere Politik akzeptieren müssen. Sie müssen öffentliche Dienstleistungen als Investitionen und nicht als Lasten verstehen und Maßnahmen finden, damit der Arbeitsmarkt weniger unsicher wird. Die Umverteilung steht wieder auf der Tagesordnung; die Privilegien der Älteren und Wohlhabenderen werden in Frage gestellt werden. Politische Modelle, die bis vor kurzem als exzentrisch galten, wie das Grundeinkommen und Vermögenssteuer, werden zu diesem Mix an Maßnahmen gehören” [57]

 

Zur selben Zeit, am 12. März, erklärte der französische Präsident Macron öffentlich: “Was sich in dieser Pandemie jetzt zeigt ist, dass freie Gesundheitsvorsorge für alle im Wohlfahrtsstaat nicht eine Kostenlast darstellt, sondern ein wertvolles Gut und Gewinn, wenn das Schicksal zuschlägt. Was diese Pandemie zeigt ist, dass einige Güter und Dienste außerhalb der Gesetze des Marktes platziert werden müssen.“ [58]

 

Wir sehen denselben Trend in Deutschland. Der Herausgeber der Deutschen Welle äußert ebenso Ende März 2020 den Ruf nach einem Fürsorge-Staat, in dem er verlangt, dass der Staat sich mehr einbringen möge. Die Deutsche Welle als offizieller internationaler Rundfunk ist repräsentativ für die herrschende Klasse in Deutschland. So schreibt der DW Intendant: “So tödlich, so katastrophal, so einschneidend die durch das Coronavirus ausgelöste Krise auch ist und noch sein wird: Irgendwann wird auch sie vorübergehen. Doch die Welt danach wird eine andere sein. Die Ängste, das Leid, die das Virus verbreitet hat, werden in den Seelen der Menschen lange nachhallen. Viele Bürger im wohlhabenden Westen werden - viel stärker als bisher - nach einem starken Staat rufen; einem, der sie mehr beschützt. Denn nur der Staat kann, wenn überhaupt, solche Gefahren wie Pandemien bekämpfen. (…) Der Staat soll die Probleme lösen: möglichst alle Unternehmen und Arbeitsplätze retten. Er soll großzügig Bürgschaften gewähren, für Steuererleichterungen sorgen, sich an großen, in finanzielle Not geratenen Unternehmen beteiligen. Und genau so handeln bereits jetzt schon die Regierungen der EU-Staaten, Großbritanniens, der USA oder Kanadas. Mit jedem Tag, an dem die Krise fortdauert, wird das Vertrauen in den Markt ein bisschen kleiner und die Sehnsucht nach dem alles ordnenden und beschützenden Staat größer. Eine Lehre wird der Staat aus der Krise ziehen: stärker als bisher mitzubestimmen, wo beispielsweise Medikamente hergestellt und konfektioniert werden. (…) Das gilt für Arzneimittel, aber auch andere Produkte und Dienstleistungen. Alles, was für das soziale oder ökonomische Wohlergehen eines Staates wichtig ist, darf nicht mehr ins Ausland verlagert werden. Experten sprechen von der "kritischen Infrastruktur". Was genau dazu gehört und was nicht, war zumindest in Deutschland lange unklar. In Zukunft wird im Zweifel die Produktion im Inland erfolgen. (…) Mehr Staat bedeutet nicht automatisch mehr Schutz der Bürger. Es ist in einer echten Demokratie der mündige, kritische Bürger, der zusammen mit dem Staat Verantwortung übernehmen muss, um eine Krise wie die jetzige zu bewältigen.” [59]

 

Es sagt viel aus, dass sogar die Weltbank– eine Schlüsselinstitution des globalen Kapitalismus – vor einigen Monaten einen dicken Band mit dem Titel: “Exploring Universal Basic Income” veröffentlicht hat, in dem eine Anzahl von Autoren die Vorteile und Machbarkeit eines BGE ergründen und beweisen. [60]

 

Schließlich wollen wir einen weiteren führenden Repräsentanten einer anderen Organisation des globalen Kapitalismus – nämlich der Vereinten Nationen – zitieren. In einem öffentlichen Statement im März 2020 hat Kanni Wignarja – die stellvertretende UN-Generalsekretärin und UNDP Regionale Direktorin für Asien und den Pazifik – ihre Unterstützung für eine staats-kapitalistische Politik und, im besonderen, die Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens ausgedrückt. Es ist sehr bemerkenswert, dass eine UN-Repräsentantin für das BGE mit der Warnung argumentiert, dass sonst die Destabilisierung des kapitalistischen Systems droht: „Die Alternative zum bedingungslosen Grundeinkommen ist zunehmende Wahrscheinlichkeit sozialer Unruhen, Konflikte, nicht beherrschbare Massenmigration und das Gedeihen extremistischer Gruppen, die die soziale Enttäuschung nutzen und sich davon nähren.“ [61]

 

Solch ein Konzept des “starken Staats“, staatskapitalistische Politik verbunden mit einigen sozialen Reformen – eine Art „Fürsorge-Staat“ um den oben erwähnten Begriff zu gebrauchen – ist nichts neues in der Geschichte des Kapitalismus. Schon das Römische Reich – seit den Tagen der untergehenden Republik und seiner Verwandlung ins Prinzipat (und später zum Dominat) – etablierte ein System, das die ärmsten Teile der Hauptstadt unter Kontrolle hielt durch „Brot und Spiele“. Dieses System beinhaltete für 200.000 – 300.000 Menschen den kostenlosen bzw. verbilligten Bezug von Weizen, freien Zugang zu Wasser usw.. Es war Teil eines Systems, das auf der barbarischen Überausbeutung einer großen Anzahl von Sklaven und tributpflichtigen Völker beruhte. [62]

 

Um ein solches System aufrecht erhalten zu können, musste das Römische Reich ständig Kriege führen und jede Form von Volksaufständen brutal unterdrücken (wie z.B. die beiden Sklavenaufstände in Sizilien, den Spartakusaufstand, die Erhebungen der Agonistici und der Bagaudae–Gruppen von Bauern, um nur ein paar Beispiele zu nennen) [63]

 

Eine aktuellere Version des autoritären Staates mit einigen Zugeständnissen für die Armen ist erfolgreich von Otto von Bismarck, dem berühmten konservativen Staatsmann etabliert worden, der Deutschlands Vereinigung und Wachstum zu einer Weltmacht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zustande brachte. [64]

 

Später, in den 1930er Jahren setzte Präsident Roosevelt die Politik des New Deal ein, die den USA half, sich auf den 2. Weltkrieg vorzubereiten und der absolute Hegemon im imperialistischen Lager für fast sieben Jahrzehnte zu bleiben. Die wirtschaftlichen Konzepte John Maynard Keynes trugen auch zu dieser Entwicklung bei.

 

Tatsächlich sehen wir zahlreiche Ähnlichkeiten in der neuen Ideologie der herrschenden Klasse mit den Vorgängern im Vorfeld des zweiten Weltkriegws oder auf der Höhe des Kalten Krieges. Es ist eine Kombination aus militarisierten Bonapartismus mit Rhetorik von „nationaler Einheit“, „Sorge tragen“ und „sozialen“ Reformen.

 

Es ist bezeichnend, dass eine Anzahl von Staatslenkern beim Bemühen, ihre Lockdown-Politik im Frühjahr 2020 zu erklären und zu rechtfertigen auf eine Kriegsrhetorik zurückgriffen. Chinas Präsident Xi rief nach einem „Volkskrieg“ gegen das Virus. [65] Frankreichs Präsident Macron erklärte in einer großen Rede am 16. März „wir sind im Krieg“, und fügte hinzu: “Wir stehen nicht einer anderen Armee oder einer anderen Nation gegenüber. Aber der Feind ist hier: unsichtbar, schwer fassbar, aber er kommt näher.” [66]

 

Im gleichen Sinn erklärte Spaniens Premierminister dem Virus “den Krieg” und rief nach einer „Kriegswirtschaft“. In einem „Offenen Brief“ an die Europäische Union rief er dazu auf, eine neue Version des Marshallplans zu entwickeln, um einen Neustart der Europäischen Wirtschaft nach der Coronavirus-Krise in Gang zu setzen. “Europa befindet sich in der tiefsten Krise seit dem 2. Weltkrieg. Unsere Leute sterben oder kämpfen um ihr Leben in Spitälern, die von einer Pandemie überrannt werden – eine Pandemie, die die größte Herausforderung an unsere Gesundheitssysteme stellt seit der Spanischen Grippe von 1918. (…) Europa befindet sich in einem Krieg gegen einen Feind, der sich vollkommen unterscheidet von der Art von Kriegen, die wir erfolgreich in den letzten 70 Jahren vermeiden konnten: ein Krieg gegen einen unsichtbaren Feind, der die Zukunft des Europäischen Projekts in Frage stellt. (…) Europa muss eine Kriegswirtschaft einführen und für Widerstand, Wiederaufbau und wirtschaftliche Erholung sorgen. Um das zu tun, müssen wir bedeutende Ressourcen zur Verfügung stellen mittels eines neuen Marshallplans, und das erfordert die Unterstützung aller EU-Staaten.” [67]

 

Dazu kommt, wie wir auch wiederholt ausgeführt haben, dass eine große Anzahl von Vertretern der westlichen Monopolbourgeoisie von China und seinem erfolgreichen Aufstieg zur imperialistischen Großmacht beeindruckt sind. Sie sind auch teilweise davon stark beeindruckt, wie erfolgreich ihre chinesischen Rivalen dabei sind, die Volksmassen zu organisieren und zu kontrollieren. Deshalb will eine wachsende Anzahl dieser Regierenden in ihren Ländern ähnliche Methoden einführen. Als das Xi-Regime auf die COVID-19 Pandemie mit drakonischen Ausgangssperren für die ganze Bevölkerung reagierte, hat es der ganzen Welt gezeigt, wie erfolgreich Peking in einer solchen Krise seine ganze Bevölkerung kontrollieren konnte. Kein Wunder, dass es die westlichen führenden PolitikerInnen inspirierte, zumindest einige Elemente dieser Politik zu kopieren! [68]

 

In einem gewissen Sinne stellt China die “Idealform” der staatskapitalistisch-bonapartistischen Gesellschaftsformation dar. Es vereint eine Politik der brutalen Ausbeutung der Arbeiterklasse, aus der das Großkapital hohe Profite gewinnt mit einer Rhetorik des „sozialen Zusammenhalts“ und „patriotischer Einheit“. Es unterdrückt erbarmungslos nationale Minderheiten wie die Uiguren und demokratische Erhebungen wie die in Hongkong unter dem Deckmantel von „Aufklärung“, „sozialistischer“ und „anti-imperialistischer“ Phrasen. [69]

 

Für MarxistInnen ist die Verbindung von Kriegsrhetorik, militarisiertem Bonapartismus und der Ausweitung des Polizeistaats unter dem Motto der COVID-19 Pandemie offensichtlich. Immerhin ist es erwähnenswert, dass es einige bürgerliche Wissenschaftler gibt, die diesen Zusammenhang sehr wohl erwähnen, wenn auch in vorsichtiger Sprache. “Letztendlich hat die Kriegsmetapher den Weg freigemacht für ein unerhörtes Ausmaß an Kontrolle des täglichen Lebens der Bürger. Hat die Metapher die Rechtfertigung geliefert zu einer Ära der technologischen Eingriffe in die Freiheit der Menschen um des Überlebens willen? Können Demokratien einer Nutzung ähnlicher Mittel um zukünftige Pandemien zu kontrollieren, widerstehen? Viele liefern schlimme Vorhersagen.” [70]

 

Zusammenfassend sehen wir einen Prozess der Herausbildung eines sozial-liberalen Bonapartismus der als Kernelement eine stärkere Rolle des kapitalistischen Staates aufweist, sowohl in Hinsicht auf die Wirtschaft als auch auf die Politik. Er wird sich mehr mit staats-kapitalistischen Regulierungen in den Markt einmischen (im Interesse der Monopole) – eine Art neuer Version von New Deal und Keynesianismus.

 

Er wird sich massiv in das soziale Leben der Bürger einmischen, es regulieren und die persönlichen Freiheiten unter dem Vorwand von allgemeiner Gesundheit und sozialem Zusammenhalt beschränken (als „Fürsorge-Staat“). Er wird „die liberale Demokratie verteidigen“ – indem er nationale, religiöse und politische Minoritäten angreift und indem er gegen Feinde von außerhalb aufhetzt.

 

 

4. Die objektive Grundlage des Lockdown-Sozialismus: Veränderungen im politischen und wirtschaftlichen Gerüst des Kapitalismus

 

Wie wir eingangs festgestellt haben, ist es erstaunlich, wie linke Kräfte, die sich formal dem Marxismus zuordnen, plötzlich ein umfassendes und naives Vertrauen in den imperialistischen Staat zeigen. Und das, obwohl die bürgerlichen Regierungen ganz offen die demokratischen Rechte angreifen, das Heer für innenpolitische Zwecke einsetzen, hart daran arbeiten, die Überwachungstechnologien auszubauen, usw. Im Angesicht all dessen setzt die opportunistische Linke die Unterstützung der Lockdown-Politik fort. Sogar gemessen an den Opportunismus-Standards der opportunistischen Linken ist ein solcher Rückwärtssalto wirklich erstaunlich.

 

Jahre- und jahrzehntelang erklärten diese „Marxisten“ – natürlich nur in akademischen Diskursen – dass Polizei und Armee repressive Instrumente gegen die Arbeiterklasse seien. Und nun, plötzlich, vertrauen dieselben Linken in naiver Weise demselben Staat, wenn dieser behauptet, einen „Krieg gegen COVID-19“ zu führen und preist dessen bonapartistische Aktionen an.

 

Was ist die objektive Basis für diesen tragikomischen Umfaller? Man könnte sagen, dass diese Linken – wie viele andere Menschen – im März 2020 zutiefst geschockt waren und am Anfang der Pandemie panisch um ihr Leben fürchteten. Eine solche Verwirrung und Hysterie sind bezeichnend für Feiglinge, aber unwürdig für Menschen, die sich „Sozialisten“ nennen. Authentische MarxistInnen – wie die RCIT und andere – stellten sich vom ersten Tag an gegen die bürgerliche Hysterie und die Lockdown-Politik. Ungeachtet dessen, falls Unterstützung für die Lockdown-Politik aufgrund Panik noch in den ersten Tagen und Wochen erklärbar war, ist das heute, ein Jahr später, kaum mehr möglich!

 

Tatsache jedenfalls ist, dass die Lockdown-Linke noch immer nicht ihren Kurs gewechselt hat und ihre Unterstützung für die bonapartistische Politik der herrschenden Klasse fortsetzt. Wenn man ein Jahr lang in einem Schockzustand verharrt, ist man tot. Aber die Lockdown-Linke ist nur politisch tot, physisch ist sie sehr lebendig – doch nur um ihren opportunistischen Dienst an der herrschenden Klasse und deren bonapartistischer Offensive fortzusetzen.

 

Wie MarxistInnen wissen, dient die reformistische Arbeiterbürokratie – Sozialdemokraten, stalinistische Parteien, Gewerkschaften, usw. – der Bourgeoisie und sucht nach Möglichkeiten, mit dieser Abmachungen zu treffen, um in die nationalen oder lokalen Regierungen einzutreten, einen Platz in einem Aufsichtsrat zu erhalten, usw. Zentristen wiederum passen sich der reformistischen Bürokratie an und hoffen, einen Platz irgendwo im weiten Netzwerk der Bürokratie zu finden, in Staats- oder Bildungs-Institutionen, usw. Jedenfalls, um die Kapitulation der „Linken“ besser zu verstehen, muss man zuerst die Veränderungen und die Entwicklung der Politik der Bourgeoisie betrachten.

 

Die tiefere Ursache für die Kapitulation der Linken vor der staats-bonapartistischen Politik ist in den objektiven Veränderungen in den Grundlagen des Kapitalismus zu finden. Wie oben erwähnt erfährt der Kapitalismus eine historische Krise des Niedergangs. Die Weltwirtschaft liegt in den letzten Zügen, Großmächte-Rivalität und Protektionismus erschüttern die ganze Weltordnung und Volksaufstände finden auf allen Kontinenten statt (sogar in der Hochburg des alten Imperialismus – den USA!). Dazu kommt, dass China – die aufstrebende Großmacht unter den Imperialisten – als alternatives und erfolgversprechendes Vorbild dient. Diese Entwicklungen stellen, wie wir bereits in zahlreichen Dokumenten ausgeführt haben, Faktoren dar, die die Kräfte der herrschenden Klassen der alten imperialistischen Mächte des Westens dazu verleiten, sich vom Neoliberalismus – dem kapitalistischen Modell seit den 1980er Jahren – abzuwenden.

 

Also, wohin bewegt sich der Kapitalismus? Wie wir in unserem Buch über die COVID-19 Konterrevolution ausgeführt haben, „denken wir, dass die Entwicklung des Kapitalismus in folgende Richtung geht:

 

a) Monopolisierung

 

b) Staatskapitalismus

 

c) Staats-Bonapartismus

 

d) Chauvinismus

 

(…) Wir glauben, dass diese vier Charakteristika untrennbar miteinander verbunden sind. Eine wirtschaftliche Katastrophe vergleichbar in der Dimension mit der von 1929 erfordert einen massiven Prozess der Monopolisierung. Big fish eats many small fishes – vor allem, wenn er hungrig ist. In Perioden von tiefen Krisen brauchen die großen Unternehmen mehr Hilfe und Regulierung seitens des Staates. Sie brauchen eine „starke Hand“ gegen potenziell rebellierende Volksmassen. Und sie brauchen eine „starke Hand“ gegen kapitalistische Rivalen von außerhalb. Alle diese Prozesse erfordern in den imperialistischen Staaten eine Wendung der Monopolbourgeoisie in Richtung chauvinistischen Staats-Bonapartismus. Natürlich erscheint dieser Prozess in verschiedenen Formen und Geschwindigkeiten – je nach nationalen Umständen genauso wie dem Verlauf der Klassenkämpfe. Aber als allgemeinen Trend werden wir einen solchen Prozess überall auf der Welt sehen.“ [71]

 

Wir beschränken uns auf diese kurze Charakteristik und verweisen unsere Leser für genauere Darlegungen auf unsere Veröffentlichungen zu diesem Thema. An dieser Stelle genügt es zu sagen, dass der objektive Trend des Kapitalismus – politisch und wirtschaftlich – in Richtung staatsmonopolistischer Kapitalismus und chauvinistischen Staats-Bonapartismus geht. Wir sehen eine qualitativ erweiterte Rolle des imperialistischen Staates einerseits im Bereich der Reproduktion der kapitalistischen Mehrwertproduktion (d.h. in der Wirtschaft) und andererseits im Bereich der Reproduktion von kapitalistischen Produktionsverhältnissen (z.B. in Erziehung, Gesundheit, öffentlicher Dienst, usw.)

 

Unter solchen Bedingungen greifen die opportunistische Linken begeistert nach den ideologischen Brotkrumen der bonapartistischen Almosen-Politik, die die Herrschenden ihnen anbieten. Blindlings vertrauen sie in die leeren Phrasen der bürgerlichen Regierungen über „Solidarität“ und „sozialen Zusammenhalt“, die Lockdown-Linke fungiert freiwillig als „kritische“ (oder nicht so kritische) Einpeitscher für die anti-demokratische Offensive der herrschenden Klasse.

 

Natürlich kommt all das nicht aus heiterem Himmel. Ein solcher politischer salto mortale der opportunistischen Linken ist nur die Fortsetzung ihrer langfristigen Anpassung an den Imperialismus – diesmal eben angewandt an die gegenwärtigen neuen Bedingungen der COVID-19 Konterrevolution. Oder, um es genauer zu sagen, es ist eine Weiterentwicklung der bisherigen Entwicklungsrichtung hin zu einem Punkt, wo Quantität in Qualität umschlägt.

 

Wie wir in unseren Arbeiten ausgeführt haben, hat sich die opportunistische Linke bereits bei zahllosen Gelegenheiten in der Vergangenheit an den Imperialismus angepasst. Um nur einige wenige Beispiele anzuführen:

 

Während des britischen Falklandkrieges 1982 stand das CWI (das zu dieser Zeit noch jene Gruppierungen vereinte, die heute das CWI von Peter Taaffe, die ISA mit der Socialist Alternative in den USA und die IMT von Alan Woods ausmachen) de facto an der Seite des imperialistischen Mutterlandes gegen Argentinien. Desgleichen scheiterten die meisten „Marxisten“ dabei, 1991 und 2003 den Irak oder 2001 Afghanistan gegen die imperialistischen Großmächte zu verteidigen. In Britannien unterstützten viele „marxistische“ Organisationen (wie die stalinistische CPB, die zentristische CWI und IMT, u.a.) den chauvinistischen “British Jobs for British Workers”-Streik im Jahre 2008 als britische ArbeiterInnen der Lindsey Oil Refinery die Einstellungen migrantischen Arbeitskräfte stoppen wollten. In Frankreich unterstützen große Teile der französischen Linken (z.B. LCR/NPA, LO, Lambertisten) das rassistische Verbot von Kopftüchern für muslimische Frauen in Schulen. [72]

 

In Frankreich erleben wir gerade die Kapitulation großer Teile der Linken im Angesicht von Macrons Kriegserklärung gegen die Muslime. Die meisten von ihnen nahmen an Kundgebungen zur Unterstützung des islamophoben Lehrers Samuel Paty teil und riefen zur Verteidigung des rassistischen Magazins Charlie Hebdo auf, das von Muslimen überall auf der Welt wegen seiner extremen Hasspropaganda verabscheut wird. [73]

 

Dies sind nur einige Beispiele der jüngeren Vergangenheit für den innewohnenden Sozialchauvinismus großer Teile der „Linken“ und deren Loyalität „ihrem“ imperialistischen Staat gegenüber. Heute, da sich die Krise des Kapitalismus massiv vertieft hat und die Monopolbourgeoisie sich dramatisch nach rechts wendet, folgt ihr die „Linke“ im Windschatten. Ihr zeitweiser Sozial-Imperialismus (oder ihre Anpassung an den Sozial-Imperialismus) wandelt sich zu einem voll ausgewachsenen Sozial-Bonapartismus im Dienst der imperialistischen herrschenden Klasse.

 

 

5. Ein historischer Vergleich: Die Mobilisierung des imperialistischen Staates für den 1. Weltkrieg

 

Wir haben in mehreren RCIT-Veröffentlichungen zur COVID-19 Krise ausgeführt, dass die laufende Entwicklung starke Ähnlichkeiten mit der Situation von 1914 – also zu Beginn des Ersten Weltkriegs – aufweist. [74]

 

Ähnlich zu den Wochen nach dem 4. August 1914 haben die Regierungen eine massive Schock-Kampagne in Gang gesetzt. Sie haben einen Feind ausgemacht, der das ganze Land angreifen würde – 1914 waren es ausländische Invasoren, heute ist es das unsichtbare Virus (und jene Leute, die die Unterwerfung unter die Restriktionen der Regierung verweigern). Ähnlich wie heute gelang es den Regierungen, die Gesellschaft durch Überraschung zu lähmen. De facto wurden alle Medien auf eine Linie gebracht. Dazu schufen die bürgerlichen Regierungen eine Ideologie der „nationalen Einheit“ aus (heute heißt das „Solidarität“ und „sozialer Zusammenhalt“). Der deutsche Kaiser Wilhelm II. sagte in einer berühmten Rede zu Beginn des Krieges: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche.“

 

Eine weitere Ähnlichkeit besteht darin, dass auch wenn die imperialistischen Regierungen für den Krieg vorbereitet und bewaffnet waren (ähnlich wie diesmal für die Pandemie), die meisten von ihnen doch von den konkreten Ereignissen überrollt wurden und sie in einer improvisierten, ad-hoc-Weise darauf reagieren mussten.

 

Nach der ersten Periode des Krieges, als sich herausstellte, dass das Massenabschlachten nicht „zu Weihnachten“ vorbei sein würde (wie die meisten Regierungen naiverweise noch im August 1914 annahmen), waren die Regierungen – zuallererst in Deutschland – gezwungen, eine Politik der staats-kapitalistischen Regulierung zu verfolgen, um eine effiziente Kriegswirtschaft zu organisieren. In solchen Perioden von Unsicherheit und Knappheit war es wichtig für die kapitalistische Klasse, alle Bemühungen auf den einzigen Zweck – den Krieg – zu richten und alle wirtschaftlichen Ressourcen des Landes zu konzentrieren und zu regulieren. [75] Das wurde manchmal als “Kriegssozialismus” bezeichnet.

 

Der Staat mobilisierte seinen Repressionsapparat, verhängte Zensur für die Medien, verbot Massenversammlungen und übte strikte Kontrollen auf den Straßen aus. Das hieß aber nicht, dass jede Form der Kritik unterdrückt wurden. Es wäre ein Fehler zu glauben, dass die Regierungen von Deutschland, Frankreich, Österreich und England 1914 jeden Schatten von demokratischen Rechten abgeschaffen hätten.

 

In Wirklichkeit war es so, dass die verschiedensten Parteien – von rechten Militaristen, Zentrums-Parteien bis hin zu patriotischen Sozialdemokraten – ihre Tätigkeiten fortsetzten, sie veröffentlichten Zeitungen und Bücher, und debattierten öffentlich ihre Meinungen. Sogar Anti-Kriegs-Sozialisten fanden manchmal Wege, ihre Ansichten zu veröffentlichen (z.B. die Bremer Bürger-Zeitung der örtlichen „Linksradikalen“).

 

In Russland war die Situation anders. Einerseits aufgrund der erzreaktionären Natur des absolutistischen Zaren-Regimes, andererseits auch deswegen, weil Wochen vor dem Ausbruch des Krieges, das Land – besonders in der Hauptstadt St. Petersburg – einen militanten Arbeiteraufstand erlebte, der sich zu einer vor-revolutionären Situation entwickelte. [76]

 

Die herrschende Klasse ergriff daher begierig die Möglichkeit, durch den Kriegsausbruch die öffentliche Aufmerksamkeit abzulenken durch das Aufputschen eines patriotischen Chauvinismus. Bald verbot das Regime die Tageszeitung der Bolschewiki („Prawda“), sperrte tausende ihrer AktivistInnen ein und zerschlug viele ihrer Parteizellen. Im November inhaftierte die Polizei auch fünf Duma-Abgeordnete der Partei und viele andere Untergrundführer.

 

Trotz all dieser Repression, nebenbei bemerkt, gelang es den Bolschewiken schon in den ersten Wochen und Monaten des Krieges eine Reihe von anti-militärischen Aktivitäten zu organisieren. Zusätzlich zur Verweigerung ihrer Unterstützung für den Krieg bei der Abstimmung in der Duma (dem russischen Parlament), verbreiteten sie in Petersburg und anderen Städten zwischen Juli und September 1914 illegale Flugblätter und versuchten, Straßendemonstrationen und Protestaktionen zwangsverpflichteter Soldaten zu organisieren. In ihrer Propaganda verbreiteten die Bolschewiken Slogans wie „Nieder mit dem Krieg!“, „Nieder mit dem zaristischen Regime!“ und „Lang lebe die Revolution!“ Auch Slogans wie „Organisiert euch!“ und „Bewaffnet euch!“ tauchten auf. [77]

 

Im auf unseren Vergleich von 1914 mit 2020 zurückzukommen, verweisen wir auf die Tatsache, dass sich die Regierungen 2020 massive bemühten (und auch mit Erfolg), die Unterstützung der Arbeiterbürokratie zu gewinnen, so dass die Gewerkschaften, Reformisten und links-populistischen Parteien und praktisch die ganze Linke die Covid-19 Konterrevolution unterstützten. Ähnlich war es 1914, als die Regierungen von Deutschland, Frankreich, Österreich und Britain sich sehr um die Unterstützung des Kriegskurses durch die reformistischen Führungen der Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien bemühten. In einigen Ländern traten sozialdemokratische Führer sogar als Minister in imperialistische Regierung ein.

 

Es sein nebenbei angemerkt, dass es höchst interessante Dokumente gibt, die zeigen, wie der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg den Militaristen des rechten Flügels (um die Generäle Moltke und Hindenburg) entgegentrat als diese den Krieg dazu benutzen wollten, die sozialdemokratische Partei zu unterdrücken. Bethmann Hollweg versicherte ihnen, dass wenn es der Regierung gelänge, den Krieg als „Verteidigungskrieg“ gegen die Bedrohung durch Russland darzustellen, es ihm gelingen könnte, die Unterstützung der SPD zu erlangen. Er konnte das auch deswegen zusichern, weil er bereits geheime Kontakte mit den Revisionisten in der Parteiführung aufgenommen hatte (z.B. mit Ebert und Scheidemann). Bethmann Hollwegs Taktik ging auf und die Sozialdemokraten traten mit patriotischem Jubel dem Lager der imperialistischen Kriegstreiber bei. [78]

 

Aus allen diesen Gründen ist es kein Zufall, dass so viele Regierungen in der jüngsten Vergangenheit gerne die Kriegsmetapher in ihrer Propaganda benutzen. Sie erklären den „Krieg gegen das Virus“, den „Krieg gegen den politischen Islam“, den „Krieg gegen den Terrorismus“ usw. Sie machen das, weil heute – vom Standpunkt der herrschenden Klasse aus gesehen – überall weltweit eine Situation existiert die 1914 bzw. den Jahren davor ähnlich ist.

 

Wirtschaftliche und politische Instabilität wächst dramatisch und Volksaufstände drohen oder finden bereits statt. Die bürgerliche Gesellschaft befindet sich in einem hohen Maße in Instabilität, bedroht von Krise und Zusammenbruch. In einer solchen Situation – ähnlich einem Kriegsszenario – sucht die herrschende Klasse einen Weg aus der drohenden Katastrophe, in Richtung totaler Mobilisierung der Gesellschaft, um „nationale Einheit“ zu schaffen, mit einem „starken Staat“ an der Spitze.

 

Wir haben wiederholt in unseren Ausarbeitungen dargelegt, dass die jetzige Krise von der COVID-19 Pandemie beschleunigt und geformt, aber nicht verursacht wurde. Wir haben hervorgehoben, dass die herrschende Klasse sich Ende 2019 und Anfang 2020 in einer höchst unsicheren Lage befand und aus diesem Grund die Pandemie als Instrument benutzen und ausbeuten wollte, um ihre konterrevolutionäre Antwort auf die Krise zu verschleiern und zu rechtfertigen.

 

Ein kürzlich veröffentlichter Bericht der Deutschen Bank – eines der führenden Monopole des globalen Finanzsektors – liefert uns interessanten Schlussfolgerungen aus dem Lager des Klassenfeindes, die indirekt die Analyse der RCIT bestätigen. In ihrer Studie stellen die Autoren der Deutschen Bank fest, dass die Ära der Globalisierung beendet sei und nun ein „Age of Disorder“ (so auch der Titel der Studie!) – also ein „Zeitalter der Unordnung“ – begonnen habe. Sie erklären, dass sich diese Entwicklung in den letzten zehn Jahren – also nach der großen Rezession 2008/09 - angebahnt habe und dass der Kalte Krieg zwischen den USA und China seit 2018 ein Wendepunkt war. Die Autoren führen aus, dass die COVID-19 Krise die Tendenzen verstärkt habe, aber nicht ihre eigentliche Ursache sei. „Wir glauben, dass Ende der 2010er Jahre – als die USA und China ihren Handelskrieg begannen – der Schlüsselmoment war für den Beginn des kommenden Jahrzehnts der Unordnung. Solch eine Spaltung war schon seit einiger Zeit voraussehbar, wird aber nun durch den COVID Schock verstärkt und in Gang gesetzt. COVID-19 war ein Beschleuniger für Regimewechsel und die Wendepunkte in der Demographie, Globalisierung, Liberalismus, Innenpolitik, Geopolitik, sowie Vermögenswerte.“ [79]

 

Wenn Analysten eines der führenden kapitalistischen Monopole zu solchen Folgerungen gelangen, ist es ganz klar, dass solche Erwägungen weltweit innerhalb der herrschenden Klasse schon seit einiger Zeit im Gange gewesen sein müssen. Und wenn die Regierungen der Großmächte erkennen, dass wir in ein „Zeitalter des Chaos“ eingetreten sind, dann ist es doch offensichtlich, dass sie eine Form des Regierens wählen werden (z.B. den Staatsbonapartismus), die ihnen gestattet besser durch diese schwierigen Zeiten zu manövrieren?!

 

Aus allen diesen Gründen können wir mit Sicherheit feststellen, dass aufgrund der Ereignisse in jüngster Vergangenheit die herrschende Klasse den Krieg gegen die Bevölkerungen ihrer eigenen Länder erklärt haben, um die Bedingungen für die Profitmaximierung der Monopole zu verbessern und um sich für zukünftige imperialistische Kriege nach außen vorzubereiten.

 

Wenn wir auf alle diese Ähnlichkeiten zwischen 1914 und 2020 verweisen, so heißt das nicht, dass wir behaupten, dass die Situation heute identisch ist mit der vor einem Jahrhundert. Bis jetzt zeigt sich, dass die Repression in bürgerlichen (Halb-)Demokratien geringer ist als im Ersten Weltkrieg. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die revolutionäre Arbeiterbewegung zu jener Zeit viel stärker war als heute – besonders die Bolschewiki, angeführt von Lenin, und die deutschen „Linksradikalen“ mit Luxemburg, Liebknecht, Zetkin und Mehring als ihre wichtigsten RepräsentantInnen.

 

Ein weiterer wichtiger Unterschied ist, dass die COVID-19 Krise und die konterrevolutionäre Offensive der herrschenden Klasse überall auf der Welt für die Arbeiterbewegung und die Volksmassen bei weitem überraschender und unerwarteter auftauchten als der Ausbruch des Weltkrieges 1914. Der Gegenstand eines umfassenden Krieges ist ein ständiges Thema bei den Kongressen der Zweiten Internationale in den Jahren vor dem Krieg gewesen. Besonders beim Kongress von Stuttgart im Jahr 1907 sowie beim Treffen in Basel 1912 wurden Beschlüsse diskutiert und verabschiedet, die explizit vor einem solchen Ereignis warnten. Diese Resolutionen, wie Lenin später wiederholt feststellte, wiesen eine klare antimilitaristische Haltung auf und riefen SozialistInnen auf, alles nur Mögliche zu unternehmen, um gegen einen solchen Krieg aufzutreten, bzw. ihn zur Überwindung des Kapitalismus zu nutzen. [80]

 

Im Vergleich dazu wurde das Ereignis einer Pandemie von verschiedenen Think Tanks von führenden Institutionen der herrschenden Klasse diskutiert (und vorbereitet), aber es stand kaum im Zentrum der Öffentlichkeit und schon gar nicht in dem der Arbeiterbewegung. [81]

 

 

 

6. Kriegssozialismus 1914: Die sozial-chauvinistische Lensch-Cunow-Haenisch Gruppe in der deutschen Sozialdemokratie

 

Wie allgemein bekannt, kapitulierte die große Mehrheit der führenden Kreise der Sozialdemokratie in Deutschland, Frankreich, Österreich und Britain zu Beginn des I. Weltkriegs und unterstützten die imperialistischen Kriegsbestrebungen ihrer jeweiligen Länder. Das war besonders beschämend im Fall der deutschen SPD, da sie die stärkste und politisch am meisten entwickelte unter den westeuropäischen Parteien der Zweiten Internationale war. [82]

 

In den internen Diskussionen der sozialdemokratischen Fraktion im Deutschen Reichstag sprach sich nur eine Minderheit von 14 Abgeordneten – unter ihnen Karl Liebknecht – gegen die Kriegsanleihen aus. Allerdings unterwarfen sie sich der Mehrheit und stimmten am 4. August dafür. Aber bei der nächsten Debatte am 1. Dezember brach Liebknecht die Parteidisziplin und stimmte – als einziger Abgeordneter – gegen die Kriegsanleihen (drei Monate später kam Otto Rühle dazu). Dadurch entstand ein starkes Symbol für die Formierung der marxistischen Opposition gegen den imperialistischen Krieg, die später in die Bildung des Spartakusbundes und schließlich zur Kommunistischen Partei Deutschlands führte. [83]

 

Im letzten Kapitel haben wir schon einige Parallelen zwischen der Kriegssituation zu dieser Zeit und der gegenwärtigen COVID-19 Konterrevolution erwähnt. An diesem Punkt wollen wir die Aufmerksamkeit auf eine andere hochinteressante Analogie lenken: eine Gruppe von sozialdemokratischen Intellektuellen, die den „orthodoxen Marxismus“ mit der Unterstützung für die imperialistischen Kriegsbemühungen versöhnen wollten. Konkret sprechen wir von einer Gruppe deutscher Sozial-Imperialisten, die heute kaum bekannt ist, nicht einmal unter MarxistInnen: die sogenannte Lensch-Cunow-Haenisch Gruppe. [84]

 

Wie bereits erwähnt, unterstützte die große Mehrheit der sozialdemokratischen Führung die deutschen Kriegsanstrengungen. Allerdings unterteilten sich diese Sozialpatrioten in zwei Gruppen. Der größere Teil waren die alten Reformisten, verbunden mit dem traditionellen rechten Flügel und den Revisionisten in der Partei ebenso wie mit der Gewerkschaftsbürokratie. Ihre Führer und bekanntesten Vertreter waren Friedrich Ebert, Gustav Noske, Philipp Scheidemann und Eduard David und ihr Presseorgan waren v.a. die “Sozialistische Monatshefte”. Der deutsche Marxist Franz Mehring charakterisierte diese Gruppe damals zutreffend mit folgenden Worten: „Die einen haben am 4. August 1914 unter dem betäubenden Eindruck des Weltkrieges den Sozialismus abgestreift, der ihnen nicht einmal hauttief saß, und machen wahr, was sie zwar keineswegs immer gesagt haben, aber nunmehr immer gesagt haben wollen.“ [85] Kurz gesagt, diese Gruppe bestand vor allem aus den traditionellen Reformisten innerhalb der Partei.

 

Allerdings gab es auch eine zweite, kleinere, Strömung innerhalb der sozial-patriotischen Mehrheit. Diese Gruppe bestand aus Intellektuellen, die ursprünglich dem linken Flügel um Rosa Luxemburg angehörten. Sie waren Gegner des imperialistischen Krieges und Anhänger des orthodoxen Marxismus. Diese Gruppe verweigerte die Unterstützung für die Kriegsanleihen sogar noch in den internen Diskussionen vor dem 4. August. Paul Lensch, einer ihrer bekanntesten Vertreter und ein Mitglied des Reichstages, war bekanntlich einer der 14 Abgeordneten, die bei dem internen Treffen der SPD-Fraktion im Reichstag am 3. August gegen die Unterstützung der Kriegskredite gestimmt hatten. [86] Lensch war auch ein bekannter Redner auf vorhergehenden Parteikongressen, wo er für Resolutionen auftrat, die gegen Imperialismus und Militarismus gerichtet waren.

 

Weitere wichtige Vertreter dieser Gruppe waren Heinrich Cunow, ein Lehrer an der Parteiakademie und Journalist des Zentralorgans der Partei “Vorwärts“, sowie Konrad Haenisch, ein Abgeordneter des preußischen Landtages. Zusammen veröffentlichte diese Lensch-Cunow-Haenisch Gruppe die Wochenzeitung “Die Glocke”, die von Alexander Parvus gegründet worden war (einem weiteren russischen ex-revolutionären Intellektuellen, der nach der Niederlage der Russischen Revolution 1905-07 ein dekadenter Geschäftsmann geworden war und später sogar Agent des deutschen Imperialismus diente). [87]

 

Jedenfalls wurden diese Intellektuellen des linken Flügels bald nach Kriegsbeginn von der chauvinistischen Stimmung der öffentlichen Meinung überwältigt. Im Herbst 1914 kapitulierten sie, einer nach dem anderen, und wurden zu glühenden Verfechtern eines deutschen Sieges im Krieg.

 

Allerdings passte sich die Lensch-Cunow-Haenisch Gruppe nicht einfach den revisionistischen Ideen ihrer sozial-patriotischen Kollegen in der SPD-Führung an, sondern sie entwickelten ihre eigene Theorie. Für sie war ein Schlüsselelement die Herausbildung einer staatskapitalistischen Regulierung im Verteilungssektor (und zu einem bestimmten Grad auch in der Produktion), zu deren Einführung die Regierung im Herbst 1914 gezwungen war. [88] Im Konkreten priesen sie die Kriegsrationierung und Regulierung der Produktion als „Kriegssozialismus“. [89]

 

Die Festsetzung von Höchstpreisen, das Verlangen nach Regelung von Produktion und Konsum durch die Staatsverwaltung, nach den statistischen Aufnahmen durch die Warenbestände und dem verkaufszwang – was ist das alles andere als das Eingeständnis, daß der Kapitalismus gerade dann sich als unvereinbar mit dem Wohle der Gesamtheit herausstellt, wenn es gilt, daß gesamte Wohl gegen eine Welt von Feinden zu sichern? Und diese Organisation des Wirtschaftsklebens, die man jetzt plötzlich an die Stelle der kapitalistischen Anarchie setzen will, und zwar Organisation zugunsten der Gesamtheit – was heißt sie am im Prinzip anders als Sozialismus? (…) Die Sozialisierung der Gesellschaft wird durch den Krieg einen starken Anstoß erhalten.” [90]

 

Das war nicht nur ein vereinzeltes theoretisches Konstrukt eines seltsamen aber weit verbreiteten Gefühls unter “fortschrittlichen” Kriegstreibern und reformistischen Bürokraten. Nehmen wir zum Beispiel folgenden Artikel aus den frühen Kriegstagen, der am 7. November 1914 im Zentralorgan der Metallarbeitergewerkschaft veröffentlicht wurde. Darin verkündete die Redaktion voller Enthusiasmus: „Eine neue Zeit ist angebrochen, andere Menschen hat der Krieg in kurzer Zeit aus uns allen gemacht. Das gilt unterschiedslos für hoch und niedrig, für arm und reich, für Privatpersonen und Staatsdiener. Solidarität und Hilfeleistung aus unverschuldeter bitterer Not, die wir den Arbeitern als unvergängliche Richtschnur des Handelns eingeimpft und von den Reichen so oft vergeblich gefordert haben, ist über Nacht Gemeingut eines großen und leistungsfähigen Volkes geworden. Sozialismus, wohin wir blicken." [91]

 

Wie oben erwähnt, rechtfertigte die Lensch-Cunow-Haenisch Gruppe die Anerkennung des deutschen Krieges u.a. mit der Einführung der staatskapitalistische Regulierung. Sie erwarteten sich davon die Einführung eines „Organisationsprinzips“. Ein solches Prinzip – das eigentlich „kollektivistisch“ sei, also „sozialistisch“ oder wenigstens „sozialisierend“ – wäre dem „Prinzip des Individualismus“ überlegen. Also würde der Krieg objektiv gesehen – unabhängig von den Absichten der Regierung – die Gesellschaft näher an den Sozialismus heranführen. “Hier sprudelt der Springquell der sozialen Revolution, in der wir stehen, und deren Inhalt nichts anderes ist, als der Zusammenbruch der alten individualistischen Gesellschaftsordnung des privaten Kapitalismus, und das allmähliche Heraufsteigen einer sozialistischen, das heißt einer schematisch und im Interesse der Gesamtheit durchorganisierten Gesellschaft…” [92]

 

Wie es der Zufall wollte, war das “Organisationsprinzip” tief in der Geschichte Preußens und Deutschlands im Allgemeinen verwurzelt. Als Gegensatz dazu erklärten diese Intellektuellen Britannien als das Heimatland des „Prinzips des Individualismus“, kurz, es sei „die Weltmacht des Individualismus“. [93]

 

Aus diesem Grund, so argumentierte die Lensch-Cunow-Haenisch Gruppe, ist die Sozialdemokratie am stärksten und am besten in Deutschland organisiert und bloß schwach in der anglosächsischen Welt vertreten. Also würde Deutschland ein höher entwickeltes, fortschrittlicheres Prinzip repräsentieren als die Entente-Mächte. Daraus folgt, dass ein militärischer Sieg Deutschlands, der in einen „mitteleuropäischen Staatenverband“ münden würde, für die deutsche Arbeiterklasse und für den internationalen Sozialismus ebenso wie für die globale Entwicklung der Produktionskräfte Fortschritt bedeuten würde. “Hier bewährt sich der Krieg als die Lokomotive der Weltgeschichte. Solch ein mitteleuropäischer Staatenverband wäre ein außerordentlicher Schritt vorwärts im Sinne der Demokartie, des Weltfriedens, der Völkerfreiheit und des Sozialismus. Jawohl! Auch des Sozialismus!” [94]

 

Lensch ging sogar so weit zu behaupten, dass es im Interesse des Fortschritts und des Sozialismus wäre, dass Deutschland Großbritannien besiegen und sein koloniales Empire übernehmen würde! (“Aber darüber hinaus wollen wir auch in der Zukunft ein starkes, lebensfähiges deutsches Kolonialreich haben, weil wir es gerade im Interesse unser deutschen Arbeiterklasse, aus materiellen wie aus ideellen Gründen dringend brauchen.”) [95]

 

Und Johann Plenge – ein weiteres Mitglied der Lensch-Cunow-Haenisch Gruppe, der auch in ihrer Zeitschrift „Die Glocke“ schrieb – behauptete im patriotischen Fieberwahn: “Die Seele der englischen Freiheit stirbt, weil dieser allzu individualistische Freiheitsgedanke den Staat nicht zu erhalten vermag. Wenn England gesund werden will, muß es am deutschen Geist und an deutscher Organisation gesund werden. In uns ist das 20. Jahrhundert. Wir müßten der Mittelpunkt der Kraft sein, von dem aus eine neue Kulturentwicklung für Europa beginnt, wenn der Krieg wirklich in sich erlahmen und der schroffe Gegensatz bleiben sollte.” [96] Kurz, England und ganz Europa muss am deutschen Geist und deutscher Organisation gesunden!

 

Man kann sich beim Lesen dieser widerlichen Sätze voll von chauvinistischer Arroganz kaum des Gefühls des Ekels erwehren. Auch Fortuna konnte sich nicht für die Ergüsse dieser Wirrköpfe erwärmen und weniger als 18 Monate nach dem Erscheinen dieser hochmütigen Zeilen musste Deutschland vor den Entente-Mächten kapitulieren. Ein Jahr später war Berlin gezwungen, in die Leistung massiver Reparationszahlungen einzuwilligen. Es ist, nebenbei bemerkt, kein Wunder (und eine kleine Rache der Geschichte), dass außerhalb des Kreises von Historikern der deutschen Arbeiterbewegung heute niemand mehr die Namen dieser „marxistischen“ Truppe an Sozialpatrioten kennt!

 

Zusammengefasst kann man sagen, dass in der Tat Deutschland Großbritannien bis zu einem gewissen Grad half sich zu erholen. Aber das geschah weniger wegen seines „Geistes“ oder seiner „Organisation“, sondern vielmehr durch das Geld, das es gemäß dem Vertrag von Versailles zahlen musste!

 

Solch eine “marxistische” Weltsicht von Deutschlands Führung als “sozialistischer” oder zumindest als “kollektivistischer” Macht hatte weitreichende Folgen für die Charakterisierung des Krieges des Kaisers. Natürlich musste die Lensch-Cunow-Haenisch Gruppe aufgrund ihrer marxistischen Vorbildung und ihrer weiterhin bestehenden Verwendung ähnlich klingender Phrasen zugeben, dass der Krieg einen imperialistischen Charakter hatte. “Um was handelt es sich in diesem Weltkrieg? Zweifellos ist er ein imperialistischer Krieg.” [97]

 

Allerdings, so behaupteten diese „marxistischen“ Sozial-Patrioten, wäre das nur die halbe Wahrheit. Denn ebenso richtig sei es, dass Deutschland seine nationale Existenz gegen die vereinte Bedrohung von England, Frankreich und Russland verteidigen müsse.

 

Wir [haben versucht] die weltpolitische Situation auseinanderzusetzen, aus der der Weltkrieg entsprang. Je klarer man sich diese Situation macht, desto deutlicher erkennt man, daß der Krieg unvermeidlich war. Die treibenden Kräfte des Krieges waren die Ausdehnungstendenzen des Kapitalismus, sobald er aber einmal da war, handelte es sich aber keineswegs mehr bloß um sie. Für Deutschland – worunter wir das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn verstehen (was für eine „großzügige“ Interpretation der Geografie! (M.P.) – ist aus der Frage der Ausdehnung des Kapitalismus eine Frage um die nationale Existenz geworden.” [98]

 

Dazu kommt noch – wie oben erwähnt –, dass Deutschland eine sozialistische Macht sei und das historisch fortschrittliche Lager vertreten würde. Konsequenterweise charakterisierte die Gruppe die kriegsbezogenen staatskapitalistischen Maßnahmen in Deutschland als eine „Revolution“. „Es ist eine Revolution, was wir erleben“ [99] Demzufolge waren die Zentralmächte “die Proletarier unter den Weltmächten Europas, sie kämpfen wie die Arbeiterklasse um ihren Aufstieg.” [100]

 

Und der Krieg des Kaisers war ein „revolutionärer Weltkrieg“! “Der heutige Krieg ist der erste Krieg, in dem die Arbeiterklasse eine wichtige aktive Rolle spielt … Das erleben wir das Schauspiel, daß der Aufstieg dieser Klasse sich zwar unter dem Donner eines revolutionären Weltkrieges, aber ohne die Blitze eines revolutionären Bürgerkrieges vollzieht.” [101]

 

Eine Formel, die die vorgeblichen deutschen Prinzipien der „patriotischen Begeisterung“, „nationalen Einheit“ und „Kriegssozialismus“ zusammenfasste, war die Redewendung von den „Ideen von 1914“. Nicht überraschend wurde diese Formel von zahlreichen deutschen Patrioten (sozial und nicht so sozial) voller Begeisterung aufgegriffen und propagiert. In den Worten von Konrad Haenisch stellten die “Ideen von 1914“ „die Ideen der großen Um- und Neugestaltung durch die Kraft der Organisation“ dar. [102]

 

Zusammenfassend können wir sagen, dass die Sozial-Chauvinisten à la Lensch-Cunow-Haenisch leidenschaftliche Unterstützer des deutschen Imperialismus und seiner Kriegsbemühungen waren. Sie unterstützten den Ausbau der kapitalistischen Staatsmaschinerie, sie unterstützten die „nationale Einheit“, und sie unterstützten sogar den Aufbau eines Kolonialreiches. Und all das taten sie unter Zuhilfenahme „marxistischer“ Phrasen, die sie natürlich jedes revolutionären Geistes beraubt hatten.

 

 

 

7. Lenin und andere Marxisten erklären dem Kriegssozialismus den Krieg

 

Natürlich wurden diese „marxistischen“ Sozial-Imperialisten von allen marxistischen Internationalisten auf das Schärfste verurteilt. Rosa Luxemburg, die große Führerin und Theoretikerin des deutschen sowie des polnischen Marxismus, klagte die Lensch-Cunow-Haenisch Gruppe des Verrats an. “Die Haenisch, Lensch, Heinemann werden in der bürgerlichen Presse mit Lob überschüttet und als Musterknaben hingestellt. Alle diese Leute, die bei der Regierung und der Bourgeoisie lieb Kind sind, tragen gerade dadurch das Brandmal ihres Verrates an den Interessen des Volkes.“ [103]

 

Karl Radek – eine zentrale Figur im linken Flügel der polnischen und der deutschen Sozialdemokratie und später auch innerhalb der bolschewistischen Partei sowie der Linken Opposition gegen die stalinistische Bürokratie – bezeichnete Lensch als „den neuen Schildknappen der Sozialimperialisten“ [104]

 

Ein anderer marxistischer Führer der polnischen und deutschen Sozialdemokratie, Julian Marchlewski, machte sich zu Recht über den Begriff „Kriegssozialismus“ lustig. “Es wäre daher wohl angebrachter, vom ‘Kriegskapitalismus’ zu sprechen als von ‚Kriegssozialismus‘, denn es dürfte sich zeigen, daß diese angeblich ‚gemeinnützige‘ Kriegsgesellschaften im Resultat dazu führen, die monopolistischen Tendenzen der Kapitalisten zu stärken.” [105]

 

Und Franz Mehring führte in seinem oben erwähnten Artikel sarkastisch aus, dass das sogenannte „Organisationsprinzip“, das angeblich so einzigartig bei den Deutschen vorhanden sei, tatsächlich von den „kämpfenden Armeen“ aller Großmächte realisiert wurde. Wie sonst, fragte er, konnten diese Heere große und umfassende, komplexe Operationen durchführen, Nachschub für Millionen Männer organisieren usw. – und das auch noch jahrelang?! Und, so fragte er weiter, wenn die Engländer derartig individualistisch waren und dem „Organisationsprinzip“ so feindlich gegenüber stehen – wie um alles in der Welt, konnten sie das größte Kolonialreich der Geschichte aufbauen und es für Jahrhunderte erhalten?! [106]

 

Wie so oft schrieb Lenin die schärfste und treffendste Kritik an diesen Sozialpatrioten. Er verurteilte die Lensch-Cunow-Haenisch Gruppe ohne Vorbehalt:

 

“… direkte Diener der Bourgeoisie” [107]

 

Der Sozialchauvinist Lensch (der die Verteidigung des Chauvinismus offener, aufrichtiger, ehrlicher betreibt als die Heuchler Cunow, Kautsky, Plechanow und Co.)…” [108]

 

“… Die offenen Imperialisten, wie Lensch und Haenisch …” [109]

 

Die deutschen Chauvinisten, zu denen auch Parvus zählt, der das Blättchen „Die Glocke" herausgibt, in dem Lensch, Haenisch, Grunwald und diese ganze Sippschaft der „sozialistischen" Lakaien der deutschen imperialistischen Bourgeoisie schreiben …” [110]

 

Zu ihrem Presseorgan “Die Glocke” bezog er sich “ Das Ganze ist eine Kloake des deutschen Chauvinismus, verdeckt durch ein Aushängeschild mit der großspurig hingeschmierten Aufschrift: Im Namen der Interessen der russischen Revolution!” [111]

 

Lenin entlarvte auch den Begriff “Kriegssozialismus” in seiner wahren Bedeutung als „staatsmonopolistischen Kapitalismus“. „Und was ist der Staat? Das ist die Organisation der herrschenden Klasse, in Deutschland z. B. die der Junker und Kapitalisten. Deshalb ist das, was die deutschen Plechanow (Scheidemann, Lensch u. a.) ‚Kriegssozialismus‘ nennen, in Wirklichkeit staatsmonopolistischer Kriegskapitalismus oder, einfacher und klarer ausgedrückt, ein Militärzuchthaus für die Arbeiter, ein militärischer Schutz für die Profite der Kapitalisten.“ [112]

 

Der Führer der Bolschewiki wies auch auf einen anderen wichtigen Aspekt hin. Er zeigte auf, dass eine solche Verfälschung des Marxismus, wie sie in Worten und Phrasen im Dienst des Kapitalismus und Imperialismus stattfand, nicht eine Neuerfindung der Sozialpatrioten à la Lensch & Co war. Es ist vielmehr seit langer Zeit eine Waffe von bürgerlichen Intellektuellen. Sie behalten viele „marxistische“ Begriffe und Ideen bei, aber berauben sie ihres revolutionären Geistes.

 

Eine weitere „marxistische" Theorie des Sozialchauvinismus: Der Sozialismus beruhe auf der raschen Entwicklung des Kapitalismus; der Sieg meines Landes würde die Entwicklung des Kapitalismus und folglich auch den Anbruch des Sozialismus in diesem Lande beschleunigen; die Niederlage meines Landes würde seine ökonomische Entwicklung und folglich auch den Anbruch des Sozialismus aufhalten. Eine solche echt struvistische Theorie wird bei uns von Plechanow, bei den Deutschen von Lensch und anderen entwickelt. Kautsky polemisiert gegen diese grobe Theorie, gegen Lensch, der sie offen verficht, und gegen Cunow, der in verhüllter Form für sie eintritt, aber Kautsky polemisiert nur, um auf Grund einer raffinierteren, jesuitischeren chauvinistischen Theorie die Aussöhnung der Sozialchauvinisten aller Länder zu erreichen. Wir brauchen uns nicht lange bei einer Untersuchung dieser groben Theorie aufzuhalten. Die „Kritischen Bemerkungen" Struves sind 1894 erschienen, und in den 20 Jahren seither haben die russischen Sozialdemokraten diese „Manier" der gebildeten russischen Bourgeois, ihre Ansichten und Wünsche unter dem Deckmantel eines „Marxismus" durchzuschmuggeln, der von jedem revolutionären Geist gesäubert ist, zur Genüge kennengelernt. Im Struvismus äußert sich nicht nur das russische, sondern auch, wie die jüngsten Ereignisse besonders anschaulich zeigen, das internationale Bestreben der Theoretiker der Bourgeoisie, den Marxismus „durch Milde" zu töten, ihn in der Umarmung zu ersticken - durch vorgebliche Anerkennung „aller" „wahrhaft wissenschaftlichen" Seiten und Elemente des Marxismus außer seiner „agitatorischen", „demagogischen", „blanquistisch-utopischen" Seite. Mit anderen Worten: Man will vom Marxismus alles nehmen, was für die liberale Bourgeoisie annehmbar ist, einschließlich des Kampfes um Reformen, einschließlich des Klassenkampfes (ohne Diktatur des Proletariats), einschließlich der „allgemeinen" Anerkennung der „sozialistischen Ideale" und der Ersetzung des Kapitalismus durch eine „neue Ordnung", und will „nur" die lebendige Seele des Marxismus, „nur" sein revolutionäres Wesen beiseite werfen.“ [113]

 

Wir können zusammenfassen: Lenin und die anderen revolutionären Marxisten bekämpften die Sozial-Chauvinisten vom Typus Lensch-Cunow-Haenisch konsequent. Sie entlarvten deren „marxistische“ Phrasen, die letztere als Rechtfertigung und Unterstützung für den Krieg des Kaisers benutzten und machten klar, dass ungeachtet solcher Phrasen, diese Art von „Linken“ lediglich vulgäre Diener der imperialistischen Bourgeoisie waren. [114]

 

 

 

 

8. Die Lockdown-Linke: Würdige Nachfolger der sozial-chauvinistischen Kriegssozialisten

 

Wie wir oben gezeigt haben, gibt es natürlich wichtige Unterschiede zwischen der frühen Periode des Ersten Weltkriegs und dem jetzigen Stadium der COVID-19-Konterrevolution. Gleichzeitig jedoch kann man einige wichtige Gemeinsamkeiten nicht übersehen. Genauso ist es mit der sozial-chauvinistischen Strömung der Kriegssozialisten. Auch hier existieren verschiedene Differenzen mit der sozial-bonapartistischen Lockdown-Linken heute. Aber die Ähnlichkeiten sind verblüffend!

 

Wenn wir weiter im Rahmen unserer historischen Analogie operieren, können wir folgende Differenzierung vornehmen. Auf der einen Seite finden sich die vulgären Reformisten und Linkspopulisten Linke wie die PCE, IU und PODEMOS (Spanien), SYRIZA (Griechenland), LINKE (Deutschland), KPÖ (Österreich), PCF (Frankreich), PCB (Brasilien), die Südafrikanische KP, usw. Diese Kräfte sind Teil des bürgerlich-parlamentarischen Systems seit Jahren und sogar Jahrzehnten. Sicherlich, sie gebrauchen manchmal durchaus sozialistische Phrasen und zitieren einige Sätze von Marx, solange dies nicht ihren Karrieren schaden. Das sind langjährige und erprobte Lakaien der Bourgeoisie. Heute verteidigen sie ohne Einschränkung die bonapartistische Lockdown-Politik, die Ausweitung der Befugnisse von Heer und Polizei usw. Wenn wir also im Rahmen unserer Analogie zur deutschen Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg verbleiben, dann können wir diese Kräfte mit dem rechten Flügel der deutschen Sozialdemokraten im I. Weltkrieg: à la Noske and Scheidemann (mit ihrem Presseorgan “Sozialistische Monatshefte”), die enthusiastisch ihre bürgerlichen Regierungen unterstützten und während des ganzen Krieges deren Politik mittrugen.

 

Auf der anderen Seite gibt es die linkeren „Marxisten“ wie die oben erwähnten „Trotzkisten“ à la SWP/IST, IMT, PSTU/LIT, PO/CRCI, RF/L5I, etc. Sie preisen nicht nur den Lockdown, sondern fordern sogar seine reaktionäre Eskalation hin zum „vollständigen und unbegrenzten Lockdown“. Sie kritisieren daher die bürgerlichen Regierungen, dass sie wegen der Zugeständnisse an die Wirtschaft den vollständigen Lockdown verhindern wollen. Sie bezeichnen das ganze Konzept der totalen Ausgangssperre für alle als einen progressiven Schritt nach vorn und verlangen, dass die Bourgeoisie die Kosten dafür trägt. Innerhalb unserer historischen Analogie mit der deutschen Sozialdemokratie nach 1914 ähneln diese Kräfte nicht so sehr den Vulgär-Revisionisten des rechten Flügels, sondern eher der Lensch-Cunow-Haenisch Gruppe um die Zeitung “Die Glocke”.

 

Sicherlich erscheinen diese Lockdown-Linken radikaler und deshalb gelingt es ihnen leichter, sozialistische AktivistInnen zu verwirren. Insofern sind sie damit auch gefährlicher für den authentischen Marxismus, weswegen es durchaus sinnvoll ist, sich mit diesen Kräften und ihren ideologischen Vorgängern von 1914 zu beschäftigen.

 

Fassen wir nun die Resultate unseres Überblicks aus den letzten Kapiteln zusammen und betrachten wir die auffälligsten wichtigsten Parallelen zwischen der marxistischen Lockdown-Linken und den Sozialchauvinisten à la Lensch-Cunow-Haenisch.

 

 

 

i) Eine Bedrohung von außen gegen uns alle, gegen die sich die Gesellschaft als Ganzes geschlossen stellen muss

 

 

 

Zuerst, wie wir oben gesehen haben, charakterisierten die Pro-Kriegs-Sozialdemokraten den imperialistischen Krieg als Bedrohung gegen die ganze Nation, gegen die wir uns verteidigen müssten. Ähnlich dazu sehen die Lockdown-Sozialisten die Pandemie als Katastrophe, die uns alle bedroht und weswegen wir „alle im selben Boot sitzen“. Kapitalisten und Arbeiter, Staat und Opposition, wir alle sind betroffen von der Pandemie, die von irgendwo außerhalb kommt und die wir nur gemeinsam durch eine kollektive Anstrengung der ganzen Gesellschaft abwehren können. Falls die Lockdown-Linke Kritik an den Kapitalisten übt, dann, dass sie (die Kapitalisten) diese Sicht zu wenig teilen und dass sie zu zögerlich die totale Ausgangssperre über die Gesellschaft vorantreiben.